Er war mehrfach zu Feldforschungen unterwegs. Mal zog er mit Zoltan Kodály durch die große ungarische Tiefebene, mal hatte er einen Phonografen im Gepäck. Doch sein Anliegen blieb stets dasselbe: Auf der Suche nach alten Volksliedern wollte er der meist bäurischen Bevölkerung altes ungarisches Liedgut entlocken. Einfach war dieses Unterfangen nicht, wie einige Aufzeichnungen belegen.
Béla Bartók hat – in Analogie zu Luthers Prämisse – dem „Volk aufs Maul geschaut“, hat Sprachmelodien gesucht und sie später für seine Werke nutzbar gemacht, dies allerdings meist in Form von Bearbeitungen und besonders in seinen Instrumentalwerken, etwa in den „Ungarischen Bauernliedern“ oder den „Rumänischen Weihnachtsliedern“. Darüber vergessen wird gerne Bartóks Vokalwerk.
Dort nun setzt Michael Braun an mit seiner 2015 eingereichten Regensburger Dissertation „Béla Bartóks Vokalmusik. Stil, Kontext und Interrelation der originalen Vokalkompositionen“. Was auf den ersten Blick als einheitlicher Block im Werk-Katalog erscheint, entpuppt sich beim Lesen dieser Studie als differenziertes Gebilde: Chor- und Solowerke hier, geschlossene Formen und offene Sammlungen dort, große Kompositionen stehen neben kleinen, Bearbeitungen neben Originalwerken. Die Bartók-Forschung gibt dabei, wie Braun betont, ein stellenweise sehr heterogenes Bild ab, einzig verbunden in dem Ansatz, vornehmlich Aspekte wie Harmonie und Tonalität in Bartóks Musik in den Fokus zu rücken.
Braun stützt sich in seiner Untersuchung, ausgehend von der Entstehungsgeschichte der ausgewählten Stücke, auf sechs Werke beziehungsweise Werkgruppen: die Oper „Herzog Blaubarts Burg“, die „Fünf Lieder“ op. 15 und 16, die „Cantata profana“ von 1930 sowie, entstanden in der Mitte der 1930er Jahre, „Aus vergangenen Zeiten“ für Männerchor A cappella und die 27 „Zwei- und dreistimmigen Chöre“ für Frauen- und Kinderchor. Jedes dieser Werke wird im Analyse-Abschnitt nach den Kriterien Melodik, Harmonik und Tonalität, Form und Textdeutung ausgewertet. Wer sich nun sorgt, den sprachlichen Feinheiten des Ungarischen nicht folgen zu können, wird im Anhang entsprechende deutschsprachige Übersetzungen finden. Auch gibt es kurze Erläuterungen zu Übersetzungsproblemen.
Die jeweils am Kapitel-Ende stehende „Kontextualisierung“ beleuchtet zusammenfassend Hintergründe. So etwa im Abschnitt über die Blaubart-Oper, wo deutlich wird, dass die hier eingangs erwähnten Feldforschungen und die daraus erwachsenen Werke einer „völlig anderen schöpferischen Sphäre“ angehören, da sie „offensichtlich auf die Möglichkeiten bürgerlicher Hausmusik“ abzielen. Die Blaubart-Oper hingegen folgt anderen, eigenständigen Zielen, was belegt, wie konsequent Bartók zu dieser frühen Zeit eine „denkbar klare Trennlinie zwischen originalem Werk und Volksliedbearbeitung“ gezogen hat. Dahingegen wirken, am Ende der Skala der untersuchten Kompositionen, die 27 Chöre von 1935/36 „auf den ersten Blick wie ein Gegenpol“, nicht nur wegen ihrer Leichtigkeit und Heiterkeit, wie man sie in Bartóks gesamtem Schaffen nur selten findet. Natürlich liegt es nahe, diese Chöre in den Kontext der pädagogischen Werke Bartóks zu rücken („Mikrokosmos“, „44 Duos“, „Für Kinder“), dennoch kann Braun auch Unterschiede aufzeigen. Das Faszinierende an dieser Chor-Sammlung ist, dass Bartóks Personalstil sich zwar nie verleugnen lässt – ebenso wenig wie der ernsthafte Anspruch, mit dem er die Gesänge behandelt –, doch modifiziert er hier seine Ausdrucksmittel: Bartók bindet sie natürlicher ein und stellt sie, bildlich gesprochen, weniger plakativ ins Schaufenster.
Durch dieses Buch, dessen Komplexität sich nicht leugnen und das sich keinesfalls im Schnelldurchgang konsumieren lässt, ziehen sich mehrere Konstanten wie ein eigener Subtext: etwa die Bedeutung des Parlando, der Gegensatz zwischen freier und strenger Gestaltung, die Orientierung an Sprachmelodie und -rhythmus, der ständige Spagat zwischen Tradition und Innovation, die Bedeutung der Texte, die den jeweiligen dramaturgischen Verlauf der Musik bestimmen et cetera.
Michael Braun hat in seiner Studie grundlegende Ergebnisse zu Bartóks Vokalschaffen erarbeitet und stellt diese, trotz aller Vielschichtigkeit, auf durchweg anschauliche Weise dar. Insofern wirkt der diesen Band beschließende Ausblick wie ein Cliff-Hanger, wenn Braun auf die Vokalität in Bartóks Instrumentalmusik hinweist. Dieses Thema genauer zu beleuchten, bleibt künftiger Forschung vorbehalten.
- Michael Braun: Béla Bartóks Vokalmusik. Stil, Kontext und Interrelation der originalen Vokalkompositionen (Regensburger Studien zur Musikgeschichte, Bd. 11), ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg 2017, 362 S., Notenbsp., € 35,00, ISBN: 978-3-940768-67-4