Silvester, Neujahr, zwischen den Jahren. Nie ist die Branche stiller als zu dieser Jahreszeit. Da lohnt ein Blick, oft ein zweiter, auf die gerade veröffentlichten Alben. Wenn die Marketing- Abteilungen noch im Schneeurlaub schwelgen oder zwischen Palmen hängen. Oder von selbigen herabbaumeln, weil das Jahr vorher merkantil erfolglos war.
Ihn wird das wenig interessieren. Ryan Adams, der rotzige Songwriter aus Blues, Herzschmerz und New York, verwöhnte uns 2005 mit drei Alben. „29“ nennt er sein bittersüßes Album. Country, Folk, Rockabilly sind die Grundmanifeste. Adams jauchzt, stöhnt, heult, lacht oder japst. Antörnend, weil Blutschweiß getränkt. Völlig different gehen die Norweger Royal Rooster vor. Sie gatzen nicht lang herum auf „Rescued By Rock’n’Roll“ und legen die Karten auf den Tisch: Sie sind Fans der 70er-Rocker. Led Zeppelin, Kiss und ähnliche Kameraden tauchen in den Songs auf. Aber sie werden nicht zu Götzen stilisiert. Vielmehr panschen Royal Rooster das mit Humor, Ironie und Lockerheit. Ein rockiges Tanzalbum für Frechdachse.
Alte Füchse sind Our Lady Peace aus Kanada. Zehn Jahre alt, drei Jahre Plattenpause hinter sich. Nun aber das beste Album der Band aller Zeiten: „Healthy in paranoid Times“. Es könnte sie nach oben katapultieren. Raus aus der Nische des Geheimtipps aller Geheimtipps. Bob Rock (u.a. Metallica) hat produziert und das Letzte aus OLP herausgekratzt. Songs voll magischer Melancholie. Kurzweilig, aber traurig. Fassend, aber nie umarmend. Grandios ist Sänger Raine Maida. Er startet die Sucht vom ersten Song an. Wahrer und ehrlicher Alternative-Rock. Bestaunenswert. Schon alleine weil Howie Beck, der nächste Kanadier im Plattenreigen, unaufhörlich die Selbstherrlichkeit der Phonoindustrie anprangert, muss er gehört werden. Der Songwriter setzt mit dem Album „Howie Beck“ eine weitere Spur in den Sand seines Debüts „Hollow“. Zeitlos schöne Songwritermusik. Zu dornig um im Allerlei zu landen, aber nie verbittert. Musik für den baldigen Übergang in was auch immer.
Fall Out Boy tauft sich eine US- Band, nimmt ein Demo auf und erregt die Aufmerksamkeit des amerikanischen Rolling Stone. „Viel versprechend“ glaubt der, wäre die Band. Und: Der RS hat nach vielen falschen Einschätzungen mal wieder Recht. „From Under The Cork Tree“ empfängt uns mit unkompliziertem Punkrock, der nie abgekupfert wirkt. Fall Out Boy nimmt geschickt und oft das Tempo aus der Brise, verweilt in romantischen Gesangsharmonien und verstrickt sich nie in plumpen Riff-Schrubbereien. Angemessener Punkrock mit Wehmut.
99-mal heißt es die Vorspieltaste drücken (Erklärung bei Kauf), möchte man Danko Jones neues Werk „Sleep is the Enemy“ abkürzen. Das an sich wäre eine Frechheit, denn den Trotzrocker hat man ja längst für sich lieb gewonnen. Geprägt von AC/DC, Henry Rollins oder Lenny Kravitz geht man mit Danko Jones in den Ring. Strukturierte Riffs, rockige Gesänge. Stets umgeben vom Flair der Rockwelt. Also kleine, nach Schweiß duftende Clubs. Als Hardrocker fühlt man sich schnell sauwohl mit diesem Pfund vom dritten Kanadier der monatlichen Plattenrunde. Ein schönes deutsch gesungenes Songwriteralbum („Zwischen Heimweh und Fernsucht“) stellt Pohlmann vor. Lakonisch, melancholisch, aber mit dem nötigen Ernst. Auf keinen Fall ist das Pop. Es ist, was Songwriter eben so schreiben. Akustikgitarre, mal derb, mal romantisch, mal bluesig, mal kantig, mal rutschig, zuweilen schrubbend, dann obergärig. Eine Art „Selig unplugged“ oder „Kung-Fu light“; sollte noch irgendjemand eine dieser Franz-Plasa-Bands kennen. Mit Pohlmann geht es vorwärts. Auch wenn es langsam bleibt. Bitte anhören.
Brit-Pop funktioniert genauso gut deutsch. Wie? Ja, Photonensurfer und ihr Album „Neue Weltordnung“ schämen sich nicht und geben ihre britische Pop/Rock-Vorliebe offenherzig zu. Aber, abgepaust wird nicht bei Photonensurfer. Es gibt Bruchstücke von Oasis, Blur, Radiohead (den guten, frühen Radiohead wohlgemerkt), I am Kloot oder ähnlich seriösen Britbands. Ein Album, das insbesondere durch einen schönen Fluss, eine einheitliche Stimmung besticht und nicht so marktschreierisch auf deutschen Ernst getrimmt wurde. Man ließ der Band ihre Authentizität. Danke dafür. Für Hörer, die gerne mal ein bisschen in Songs versinken möchten.
Ein deutsch-polnisches Erlebnis findet man in der Kompilation Miedzy Nami Café, benannt nach einem kleinen Laden in Warschau, der Künstlern als Schmelztiegel dient. Dort trinken, essen und „künstlern“ sie. Grund genug, dieses Flair musikalisch einzufangen. Artisten wie Under Pressure, One Self, Telepopmusik, One Million Dollars, Herbaliser, Handsome Boy Modelling School oder Stina Nordenstam geben Tracks – wie man wohl so sagt – zum Besten. Es wurde eine extrem hörenswerte Melange aus Elektropop, Relax-Musik, Jazzartpop oder Chillout-Fragmenten. Ja, man könnte es Patchwork nennen. Europäisch zusammenwachsend, diese Zusammenstellung. Mit alten Bekannten der 80er endet das Plattenkarussell für Februar. Die Cutting Crew findet nach Irrwegen, Enttäuschungen, Abfuhren und Täuschungen wieder zusammen. „Grinning Souls“ zeigt eine Popband, die Narben der Branche und des Lebens auf dem Herzen trägt und nicht verhehlt. Zeitloser, schöngeistiger und sperriger Pop bildet das Gerippe. Dazu kommt, dass die Crew eine famose Songwriter-Band wurde, aus dem vollen Erfahrungsschatz wirken kann und so weder in Pop-Langweile oder Dudelei verfällt.
Anspruchs-Pop somit, den man im Jahr 2006 gerne mal wieder öfter hören mag.
Diskografie
• Ryan Adams: 29 (Januar 2006, Lost Highway)
• Royal Rooster: Rescued By Rock’n’Roll (Januar 2006, Dustbowl Sounds)
• Our Lady Peace: Healthy in paranoid Times (Februar 2006, Columbia)
• Howie Beck: Howie Beck (Februar 2006, Rough Trade)
• Fall Out Boy: From Under The Cork Tree (Februar 2006, Island)
• Danko Jones: Sleep is the Enemy (Februar 2006, Bad Taste Records)
• Pohlmann: Zwischen Heimweh und Fernsucht (Februar 2006, Virgin)
• Photonensurfer: Neue Weltordnung (Februar 2006, Motor)
• V.A.: Miedzy Nami Café (Februar 2006, Audiopharm)
• Cutting Crew: Grinning Souls (Februar 2006, Hypertension)