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In dieser Besetzung keine „Falschspieler“: Rudolf Serkin (re.) mit Mstislav Rostropovich. Foto: nmz-Archiv/DG-Steiner
In dieser Besetzung keine „Falschspieler“: Rudolf Serkin (re.) mit Mstislav Rostropovich. Foto: nmz-Archiv/DG-Steiner
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Alte Pianisten oder: Falsche-Noten-Spielern zum Lobe

Untertitel
Beethoven-, Chopin-, Reger- und Schumann-Einspielungen
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Wettbewerbe demonstrieren unüberhörbar: nie ist besser Klavier gespielt worden als heutzutage. Das bezieht sich auf die internationale Pianistenschar zwischen zwanzig und fünfunddreißig, die – mit ihrem Prototypen Lang Lang an der Spitze – zu jeder Zeit, an jedem Ort und für jede Gelegenheit quasi abrufbereit zur Verfügung steht. Die jungen Leute machen Furore auf aktuellen Tonträgern und – in Abstufungen – ebenso in den Konzertsälen. Dort vermittelt sich der Eindruck meistens noch objektiver als durch die studioproduzierten Aufnahmen. Diese Generation kann auf dem Klavier alles, zumindest fast alles. Sie exekutiert die Musik, von Bachs objektivierenden Kontrapunkt-Künsten bis zu Prokofieffs Virtuositäts-Exzessen, technisch unfehlbar, klanglich raffiniert, artikulatorisch detailreich ausgefeilt, und sie vermag mit ihrer komplexen Wirkungskraft anstrengungslos zu beeindrucken.

Artur Rubinstein hat geschrieben und häufig gesagt, er sei immer ein Viele-falsche-Noten-Spieler gewesen. Für andere aus seiner Zeit gilt das nicht weniger, für Rubinstein selbst, wenn man es recht sieht, wohl noch am wenigsten. Vier der fünf hier anzuzeigenden Pianisten waren Falsche-Noten-Spieler. Die Ausnahme betrifft den Jüngsten von ihnen, den 1909 geborenen Shura Cherkassky. Der konnte, wenn er in eine Höllengangart verfiel, vielleicht mal unklar im Klangbild werden. Falsche Noten jedoch sind von ihm nicht überliefert – im Gegensatz zu den anderen hier zu präsentierenden Pianisten, geboren zwischen 1877 (Cortot) und 1903 (Serkin).

Bleiben wir dabei: es ist nie besser Klavier gespielt worden als heute. Aber ergänzen wir sofort: es ist nie so gut und überzeugend-originell musiziert worden wie damals von den zitierten und wie von vielen unerwähnt bleibenden anderen Pianisten der alten Generation. Gerechterweise sei gesagt: es gab immer Ausnahmen in beiderlei Hinsicht, und es existieren diese Ausnahmen auch heute bei den jungen Pianisten. Zu sprechen aber ist von dem heutigen Trend, jeden, der fehlerfrei und sehr schnell Klavier spielen kann, zum Star-Pianisten auszurufen. Die hier markierten Fähigkeiten reichen vielen Veranstaltern und Medienverantwortlichen, zumal sie dem Publikum reichen, um diesen Spielertypus – oft hemmungslos – zu favorisieren.

Es soll hier nicht abgerechnet werden zwischen dem Klavierspiel von heute und von ehedem. Sehr wohl aber sollen die Verdienste der Cortot, Erdmann, Kempff, Serkin und Cherkassky verdeutlicht und die sie publizierenden CD-Labels mit der ihnen dafür zukommenden Anerkennung bedacht werden. Die fünf alten Pianisten waren erstklassige Klavierhandwerker. Sie waren aber außerdem und vor allem musizierende Künstler, die wussten, was sie spielten und wie sie es spielen wollten, um aus der gewählten Literatur klischeebereinigte Persönlichkeitsbilder der Komponisten entstehen zu lassen, auch aber um ihre eigene und unverwechselbare Spur zu legen. Und wie taten sie das? Einige Stichworte zur Antwort.

Cortot nimmt Schumanns Klavierkonzert (mit dem musterhaft kooperierenden Ferenc Fricsay am Pult seines RIAS-Orchesters) das Spielwerkhaft-Griffige und -Behende, legt es wie eine freie Phantasie an, also so, wie das mittlere 19. Jahrhundert die Ablösung vom strengen Sonatenhauptsatz betrieb, durchwebt das Intermezzo mit der Leichtigkeit des Übergangs-Parlandos zum Finale, dessen gefürchtete Synkopenpassagen als die expressiven Schlüsselstellen fungieren. Kempff, immer für sein Beethoven-, Schubert- und Schumannspiel gerühmt, verweist mit überraschender Kompetenz auf Chopins Ernsthaftigkeit, die den Polen für André Gide in die gleiche Rangordnung wie Bach stellte. Erdmann lichtet Regers Klavierkonzert so auf (wie auch Serkin das in seiner Aufnahme mit Ormandy versucht hat), dass der Grad der Zugänglichkeit zu dieser angeblich sperrigen Musik merklich erhöht wird. Geradezu unbeschreiblich ist Serkins Zugang zu Beethovens Diabelli-Variationen, die als Kosmos von Gegensätzlichkeiten aufglühen. Dieser Kosmos in seiner spektakulären Vielschichtigkeit wird von ihm derart eigengeprägt erfasst und so musikalisch wie reflektorisch erfüllt dargestellt, dass der Hör-eindruck nur hymnisch zu beschreiben ist. Cherkassky endlich war immer der grandiose Liszt-, Chopin-, Rachmaninow-Virtuose, der andererseits Bergs Sonate, Webern, Boulez und Stockhausen gespielt hat. Auf der neuen ORFEO-CD drängen sich neben Brahms’ beiden Büchern der Paganini-Variationen vielleicht Liszts Réminiscences de Don Juan in den Vordergrund der Betrachtung, weil neben Virtuosität pur der Aspekt des Magischen, des Dämonischen zum Ausdruckssediment des Ganzen wird – also der Geist Mozarts in die Verständnisebene des 19. und übergreifend des 20. Jahrhunderts in eine friedlose Neuzeit gehoben wird.

Diskografie

Beethoven: Sonate E-Dur op. 109, Diabelli-Variationen; Rudolf Serkin
Music & Arts CD 1200

Beethoven: Sonate c-Moll op. 111, Schumann: Fantasie C-Dur op. 17, Brahms: 6 Klavierstücke op.118, Chopin: Valse cis-Moll op. 64,2, Berceuse, Fantasia-Impromptu cis-Moll op. posth. 66, Impromptus opp. 51, 36, 29; Wilhelm Kempff
ORFEO C 7210721

Chopin: Polonaise fis-Moll op. 44, Ballade f-Moll op. 52,Scherzo E-Dur op. 54, Brahms: Paganini-Variationen a-Moll op. 35, Liszt: Réminiscences de Don Juan, Mendelssohn: Capriccio e-Moll op. 16,2; Shura Cherkassky
ORFEO C 720071 B

Reger: Klavierkonzert, Schubert: Sonate B-Dur D 960, Schumann: 6 Intermezzi op. 4; Eduard Erdmann, Kölner Rundfunk Sinfonie Orchester, Hans Rosbaud
ORFEO C 722071 B

Schumann: Klavierkonzert, Tschaikowsky: Symphonie Nr. 5 e-Moll op. 64; Alfred Cortot, RSO Berlin, Ferenc Fricsay
audite 95.498

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