Royal Concertgebouw Orchestra Live, Vol. V (1980–90), unter den Dirigenten Leonard Bernstein, Kirill Kondrashin, Carlo Maria Giulini, Antal Doráti, Lucas Vis, Bernard Haitink, Colin Davis, Kurt Sanderling, Erich Leinsdorf, Charles Dutoit, Riccardo Chailly, Eugen Jochum, Edo de Waart, Hans Vonk, Neeme Järvi, Iván Fischer, Christoph von Dohnányi, Wolfgang Sawallisch, Nicolaus Harnoncourt, Gerd Albrecht und Friedrich Cerha; RCO 08005 (Vertrieb: Codaex)
Mit einer 14 CDs umfassenden Dokumentation von im niederländischen Rundfunk mitgeschnittenen Konzerten geht die Anthologie des Amsterdamer Concertgebouw Orkest in die fünfte Runde. Die Volumes I (1935–50), 2 (1950–60) und IV (1970–80) sind mittlerweile vergriffen, wogegen es von Volume III (1960–70) noch einen kleinen Restbestand gibt – wer Interesse hat, sollte hier schnell zugreifen!
Die neue Folge präsentiert das Orchester, das ja im vergangenen Jahr von der internationalen Fachpresse zum weltbesten gekürt wurde, wie erwartet in Topform. Diesmal mit den Solisten Theo Olof (in Hartmanns Concerto funèbre), George Pieterson (wunderbar in Hindemiths Klarinettenkonzert mit Kondrashin), Martha Argerich (Beethoven Nr. 2), Alfred Brendel (Mozart KV 491), Dorothy Dorow (Dallapiccolas Commiato), Dunja Vejzovic (Bergs Wozzeck-Bruchstücke), Werner Herbers (Oboe in Peter Schats Thema), Lode Devos (Tenor in Rudolf Eschers „Univers de Rimbaud“) und Jacob Slagter (Mozarts 4. Hornkonzert mit Harnoncourt). Leonard Bernstein verbrennt seine Seele mit erschütternder Emphase in Schuberts Fünfter und Mahlers Erster Symphonie, und Giulini liefert identifikatorische Deutungen von Brahms erster Symphonie und Weberns Fünf Stücken Opus 10. Eugen Jochum (in Bruckners Sechster) und Colin Davis (in Sibelius’ Fünfter, Strawinskys Psalmensymphonie und Beethovens Messe C-Dur) sind gewohnt engagierte Anwälte ihrer Sache.
Dorátis’ späte Jahre sind mit Tschaikowskys „Pathétique“, Skriabins „Poème de l’extase“ und Debussys „Images“ eindrucksvoll belegt, wie auch Leinsdorf in der Suite aus Strauss’ „Frau ohne Schatten“. Die faszinierendsten Aufnahmen verdanken wir Kondrashin: außer Hindemith eine spannungsgeladene Fünfte Symphonie von Carl Nielsen und die ausladende Epik von Rachmaninoffs Zweiter Symphonie. Noch einmal wird deutlich, was für einen Verlust sein Tod bedeutete. Friedrich Cerha leitet Franz Schrekers üppiges Vorspiel zu einem Drama („Die Gezeichneten“), Hans Vonk Roussels lebenssprühende Dritte Symphonie, Wolfgang Sawallisch gibt Martinus „Fantasies symphoniques“ soliden Schliff, und Harnoncourt lässt „Eroica“ den Hörer aggressiv anspringen. Einen besonderen Stellenwert nimmt auch diesmal wieder die holländische Musik ein, so Alphons Diepenbrocks symbolistische „Lydische Nacht“ (unter Vonk), Peter Schat und Rudolf Escher (aus dessen „Sinfonia in memoriam Maurice Ravel“ Lucas Vis das in transparenter Kühle sich entwickelnde Largo dirigiert), und vor allem die größte Entdeckung, die das Finale der letzten CD bildet:
Edo de Waart leitet 31 Bläser, Schlagzeug und Celesta des Concertgebouworkest in Catena. Refrains and Variations von Tristan Keuris (1946-96), dem substantiellsten holländischen Komponisten des ausgehenden 20. Jahrhunderts. So eigentümlich diese Musik im introvertiert freitonalen Tonfall und der unmittelbar fesselnden Dramaturgie, in ihren wilden Umschwüngen und Gesten der Verzweiflung und Euphorie ist: Keuris ist kein Neuerer, sondern ein Vollender, der unterschiedliche Einflüsse der klassischen Moderne zu etwas unerhört Intensivem verschmelzen lässt. Wer von der grandiosen Qualität dieser 1988 entstandenen Komposition überrascht ist, darf sich auch fragen, warum wir hier so wenig wissen über die Musik unseres Nachbarlandes. Für Holland existierte immer der Rest der Welt, insbesondere die deutsche und französische Musik. Für uns scheint es Holland als Musiknation nicht zu geben, ausgenommen natürlich das vielbeneidete Concertgebouworkest, das uns hier freundlicherweise einlädt, unseren Horizont zu erweitern.