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Art Tatum, das achte Weltwunder

Untertitel
Jazzneuheiten, vorgestellt von Marcus A. Woelfle
Vorspann / Teaser

„Ich spiele nur Klavier. Aber heute ist Gott im Haus“, wandte sich Fats Waller einmal an sein Publikum als er bemerkte, dass Art Tatum unter den Zuhörern war. „Mr. Tatum, ich kann so schnell spielen wie Sie, aber mit ihrer Time könnte ich nicht mithalten“, womit Horowitz nicht nur das Tempo, sondern auch das untrügliche Rhythmusgespür meinte. „Sie haben einen neuen Trick gefunden, um die Leute glauben zu machen, daß ein Mann Klavier spielt; dabei weiß ich doch, daß es mindestens drei sind!“ meinte Hank Jones, als er 1935 erstmals Art Tatum im Radio hörte. 

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Monty Alexander berichtet, dass Art Tatum das Klavierspielen von einem Reproduktionsklavier lernte. Die Rollen dazu waren von zwei oder drei Pianisten bespielt worden, was er vielleicht gar nicht wusste. „Ich denke, das ist einer der Gründe dafür, warum er nicht eingeschränkt war und so spielen konnte, wie er es tat. Wenn Art spielte, war er wie das achte Weltwunder. Die Leute saßen da und konnten es nicht glauben.“ 

Das tut man auch heute noch, wenn man die sensationellen Fundstücke hört, die unter dem Titel „Jewels in the Treasure Box. The 1953 Blue Note Jazz Club Recordings“ erstmals auf drei CDs oder LPs veröffentlicht wurden. Wie beim Label Resonance bewährt, melden sich im umfangreichen Beiheft Musikerkollegen zu den Aufnahmen ihres Idols zu Wort, neben Monty Alexander Sonny Rollins, Terry Gibbs, auch viele jüngere Musiker. Dass sie, obwohl sie Tatum in und auswendig kennen, sieben Jahrzehnte nach seinem Tod immer noch aus dem Häuschen sind, wenn sie seinem Spiel lauschen, sagt mehr, als es jede weitschweifige, gelehrte Analyse könnte. 

Die Aufnahmen entstanden live im Trio mit dem Gitarristen Everett Barks­dale und dem Bassbrummer Slam Stewart an drei Tagen im August 1953 im Chicagoer Blue Note und zeigen im Vergleich zu vielen anderen, offiziell veröffentlichten Live-Aufnahmen jener Tage, eine überraschend gute Aufnahmequalität. Die Balance zwischen den Instrumenten stimmt und jedes Detail ist eingefangen. Ist man von anderen Kultstätten des Jazz der 50er Jahre wie dem Five Spot oder dem Birdland Gläserklirren, Telefonklingeln, quatschendes Publikum oder schlicht alles überlagerndes Rauschen gewohnt, könnte man fast Nadeln fallen hören, wenn Tatum im Trio und vereinzelt und unbegleitet Solointerpretationen von Standards aus dem Great American Songbook fischt und in Juwelen verwandelt. 

Dieser neuentdeckte Schatz bildet  eine wertvolle Ergänzung zu den unverzichtbaren Studioaufnahmen des Spätwerks (auf Capitol und Pablo). Ein Vergleich mit ihnen zeigt, dass Tatum sich sehr an den einmal erarbeiteten Arrangements hielt, wobei die Melodie des Songs immer die Essenz blieb, nicht ein beliebiger, austauschbarer Improvisationsanlass. Wer ihn deswegen als Jazzimprovisator unterschätzt, könnte genauso gut Billie Holiday mangelnden Scat-Gesang vorwerfen! Tatum bedeutet rückwärts gelesen „mutat“ (lat.: „Er verändert“). Und obwohl sich sein hohes Niveau und sein Interpretationsansatz nie zu ändern schienen, erfuhren Standard-Themen unter seinen Händen die subtilsten Verwandlungen. Für die meisten Jazzpianisten ist das Akkordgerüst eines Themas ein Sprungbrett für thematisch entlegene Improvisationen. Nicht so bei Tatum. Kühn reharmonisiert, paraphrasiert, mit witzigen Fremdzitaten angereichert, in barocker Lebensfülle vorgetragen und von wahrhaft verschwenderischer Ornamentik umrankt, klingt das Thema stets durch, aber eben wie ein Bild, das durch die unterschiedlichsten Farbspiele eines Kaleidoskops gebrochen wird. 

Der ganze Genuss stellt sich nur bei jenen Hörern ein, die mit den damals gängigen Themen vertraut sind – was vielleicht den zwischenzeitlichen Popularitätsverlust eines Künstlers erklärt, den viele für den bedeutendsten Jazzpianisten halten. Dieser harmonisch wegweisende Pianist hat im Alleingang die ganze vorherige Jazzpianogeschichte zu einem eigenen Universum verarbeitet! Wer sich seiner Kunst erstmals nähert, wozu diese Veröffentlichung einen willkommenen Anlass bietet, mag erst einmal von Tatums Rauf und Runter von rasenden Arpeggien und Skalen verwirrt sein, wird aber bald nicht mehr genug davon bekommen. Wie Charlie Parker, der zeitweilig als Tellerwäscher arbeitete, nur um in einem Club jeden Abend Tatum zu hören. Diese Kronjuwelen gehören in jede Jazz-Sammlung! (Resonance) 

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