Künstlerphysiognomien an der Schnittstelle von visionärer Kunstausübung und pathologischer Psyche standen bei Heinz Holliger schon immer hoch im Kurs. Seine jüngste Oper „Lunea“ (2018) kreist um das Leben und Wirken Nikolaus Lenaus (1802–1850), der mit 42 Jahren in einen Zustand geistiger Umnachtung fiel. Was Holliger an Lenau besonders faszinierte, waren aber nicht die prominenten Gedichte, die zwischen Schumann und Berg zu den meistvertonten des 19. Jahrhunderts gehören, sondern die sprachliche Kühnheit von dessen „Notizbuch aus Winnenthal“, gefüllt in der dortigen Nervenheilanstalt mit aphoristischen Texten und Gedankensplittern.
Librettist Händl Klaus baute um die zentralen Sätze des Lenaus’schen Zettelkastens jenseits einer linearen Handlungsdramaturgie ein narratives Kaleidoskop, das Figuren und Lebenssituationen, sprunghafte Erinnerungen und düstere Traumbilder brüchig ineinander schiebt. Dramaturgischer Fixpunkt ist Lenaus Gehirnschlag, der wie ein „Riss“ durch Leben und Kunst verläuft: „die Symmetrieachse eines völlig asymmetrischen Lebens“ (Holliger). Die damit verbundenen „Doppelgesichtigkeiten“ und multiplen Identitäten durchziehen die Oper mit programmatischer Totalität.
Holligers Klangsprache ist in der Vermittlung der Flüchtigkeit, Sprunghaftigkeit und Zerissenheit der Lenau-Psyche ungeheuer vielschichtig und detailreich. Die Bestandteile des umfangreichen Schlagzeugapparates sprechen Bände: Sandblöcke, Sandpapier, Backpapier, normales Papier, hartes Papier, dürres Laub. Im Rahmen einer Klangrhetorik der Empfindlichkeit und Überreiztheit trägt sich das eigentliche Drama vor allem in der Musik zu. Dies betrifft auch die doppelbödige Einbeziehung der Musik der Vergangenheit in Form von Quasi-Zitaten oder stilistischen Allusionen. Besonders prägend für die abgründige Atmosphäre von „Lunea“: die vielen Anspielungen an den in der musikalischen Frühromantik zum ästhetischen Ideal verklärten „Volkston“. Wenn Lenau mit Familie Reinbeck aus den „Waldliedern“ singt, der Chor einen mikrotonal verbeulten Choral anstimmt oder Lenau im 4. Blatt von „Röslein“ und „süßen Worten“ trällert, bleibt den Singenden die heile Welt im Hals stecken.
Mit Christian Gerhaher verbindet Holliger eine langjährige Zusammenarbeit, die mit der Uraufführung der „Lunea-Lieder“ 2014 ihren Anfang nahm (Initialzündung der späteren Oper). Er dringt ohne Vordergründigkeit tief in die Befindlichkeiten der Hauptfigur ein, ohne deren offenkundigen Wahnsinn unnötig zu überzeichnen (wie oft in Rihms vergleichbarem „Jakob Lenz“ geschehen). Vielmehr wird Lenau hier als komplexer und tragischer Charakter erfahrbar. Auch die Nebenpartien sind von mehrdimensionaler ‚Identität‘. Drei Sängerinnen (Juliane Banse, Sarah Maria Sun und Annette Schönmüller) müssen sieben Frauenfiguren zwischen Mutter, Schwester und diversen Geliebten bestreiten, zwischen denen sich Lenaus Dasein verzettelte und sie tun dies mit bemerkenswerter Wandlungsfähigkeit. So entstehen manch beeindruckende Ensemble-Konstellationen, die ihren Reiz gerade daraus beziehen, dass ihre Akteure praktisch in ihrer je eigenen Welt leben und singen. Eine ganz entscheidende Rolle kommt in „Lunea“ jedoch dem Chor zu. Lange hat man keine zeitgenössische Oper mehr mit einer derart substantiellen Einbeziehung des Chores gehört, der Lenaus Innenleben nochmal vergrößert und in verschiede Richtungen gleichzeitig projiziert.
Die Erstveröffentlichung auf ECM ist Dokument der denkwürdigen Uraufführung aus dem Opernhaus Zürich in der Regie von Andreas Homoki, die Holliger nach eigenem Bekunden außerordentlich schätzte. Der hochkarätigen Besetzung, den phantastischen Basler Madrigalisten und der differenzierten Philharmonia Zürich mit Holliger selbst am Pult verdankt sich die spürbare Intensität und für einen Live-Mitschnitt beachtliche Detailschärfe dieser Einspielung. Von den ersten stammelnden Worten bis zur Entmaterialisierung der Musik im letzten „Blatt“ ist die Reise durch Lenaus Kopf von elektrisierender Klangpräsenz getragen.