Neue Musik von und mit Salvatore Sciarrino, Stefano Scodanibbio, Victor Kissine, Wolfgang-Andreas Schultz und dem Philharmonischen Orchester des Staatstheaters Cottbus
Wie sich ein Personalstil über die Jahrzehnte hinweg ausdifferenziert, lässt sich beispielhaft an den Streichquartetten von Salvatore Sciarrino beobachten. Den miniaturhaften, über einen Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren entstandenen „Sei quartetti brevi“ sind die beiden größer dimensionierten Quartette Nr. 7 und 8 vorangestellt. Es ist faszinierend, den langsamen Wandel der Musiksprache Sciarrinos zwischen 1967 und 2008 zu verfolgen, vom geräuschhaft zerstäubten Klang der frühen Werke bis zu den sprachähnlichen, in der Umgebung von „Luci mie traditrici“ entstandenen Lineaturen des siebten Quartetts und zur erneuten instrumentalen Radikalisierung in der Nummer acht. Bei allen Raffinessen der Artikulation vernachlässigt das italienische Quartetto Prometeo nicht die klangsinnliche Seite der Musik. (Kairos 0013212)
In einer zweiten Neuerscheinung erinnert das Quartetto Prometeo an den vor einem Jahr verstorbenen Stefano Scodanibbio. Seine „Reinventions“ sind Musik über Musik: mit großem Einfühlungsvermögen und Fantasie verfertigte Instrumentationen und Neulektüren von Stücken aus Bachs Kunst der Fuge bis zu volkstümlichen Melodien spanischer und mexikanischer Herkunft. Eine leicht schwermütige Poesie liegt über den zerbrechlichen, obertonreichen Stücken. (ECM 4764850)
Die weite Topografie einer Stadt am Meer, das Wellenspiel und der „maritime Nachgeschmack“ finden ihren Widerhall in den sparsamen, pausendurchsetzten Klängen von Victor Kissine. Der St. Petersburger Komponist versteht es, mit kargen Mitteln eine magische Atmosphäre herbeizuzaubern. In „Between Two Waves“ deuten sich die fragilen Konturen eines Klavierkonzerts an, in der „Barcarola“ mit der Kremerata Baltica und dem Solisten Gidon Kremer schälen sich unvermittelt einige dramatische Momente aus dem klanglichen „Fast-Nichts“ heraus, ein Duo für Viola und Violoncello stellt eine Reflexion über Zeilen von Ossip Mandelstam dar. Kissines „couleur locale“ ist nicht illustrativer Art, sondern Ausdruck einer Suche nach dem ungreifbar Geistigen an einem auratischen Ort. (ECM 4810104)
Dass Uraufführungen zeitgenössischer Musik auch außerhalb der großen Zentren und Festivals möglich sind, dass sie hier sogar besonders sinnvoll sein können, zeigt aufs Schönste die Dokumentation mit 24 neuen Werken auf einer Doppel-CD, eingespielt vom Philharmonischen Orchester des Staatstheaters Cottbus unter der Leitung von Evan Christ. Die dreimal acht kurzen Uraufführungen erklangen in drei aufeinander folgenden Spielzeiten in den normalen Sinfoniekonzerten. In ihrer stilistischen Vielfalt stellen sie ein vielfarbiges Panorama der heutigen Musik dar. Valerio Sannicandro, der Kurator der Serie, sorgte für eine spannende internationale Mischung von bekannten und weniger bekannten Namen, das Orchester nimmt sich der Aufgabe mit Verve und Sachverstand an. Eine vorbildliche initiative, zur Nachahmung unbedingt empfohlen! (Telos TLS 166)
„Landschaft der Horchenden“ nennt Wolfgang-Andreas Schultz sein sechsteiliges Streichquartett, und im Untertitel ein „Vier Menschen Streichquartett“. Eine passende Bezeichnung für ein Werk, das sich in die beste Kammermusiktradition einreiht und zum aufmerksamen Nachhören seiner vielfältigen Lyrismen und linearen Feinheiten auffordert. Passagen von großer innerer Ruhe münden fließend in rhythmisch lebhafte Klangfiguren, die Zeitverläufe sind geschmeidig gestaltet, alles ist aus einer großen organischen Geste heraus entwickelt. Inspiriert ist diese Musizierhaltung durch das japanische Denken, was sich im Streichquartett eher hintergründig, in den beiden Werken mit Flöte auffälliger mitteilt. Das Amaryllis Quartett, das Hamburger Ensemble Obligat und die Flötistin Imme-Jeanne Klett lassen der Musik die nötige große Sorgfalt angedeihen. (ES DUR, ES 2042)