Stellen Sie sich vor, Sie haben einen langjährigen guten Freund, mit dessen Stimme, Gesten, Ansichten sie bestens vertraut sind. Eines Tages lernen Sie seinen eineiigen Zwilling kennen und sind über Ähnlichkeiten und Unterschiede nur so verblüfft. Mit kaum einem Album sind Jazzfreunde besser vertraut als mit „Time Out“ von Dave Brubeck.
Man singt nicht nur die Themen, sondern auch die Soli mit. Zumindest bei „Take Five“ tun das auch unzählige Menschen, die sich mit Jazz sonst überhaupt nicht beschäftigen. Seit kurzem hat „Time Out“ einen Zwilling. Er heißt „Time Outtakes“ und wurde von Mitgliedern der Familie Brubeck aus dem Nachlass aus Material der Studiositzungen des Jahres 1959 zusammengestellt, aus dem das Original entstand. Die Wirkung ist verblüffend. Wie bei Bildern, auf denen Mona Lisa zwinkert, eine Punkfrisur trägt, tätowiert ist oder ein Handy hält, basiert sie auf dem Kontrast zwischen dem Original, das man sich so oft zu Gemüte geführt hat, das sich jeder Zug fest eingeprägt hat und der Veränderung. Nur: die Mona-Lisa-Karikaturen sind ohne das Original weitgehend witz- und wertlos. Die „Time Outtakes“ wären auch alleingestellt ein unvergessliches Album. Man kann durchaus einige Takes (zumindest stellenweise) besser finden. Darius Brubeck bevorzugt zum Beispiel den alternate take von „Three To Get Ready“. Ich persönlich würde die bekannte Version von „Strange Meadowlark“ für die neue hergeben (gottlob muss ich ja nicht). Paul Desmond spielt hier 12 Sekunden lang so geistvoll und zugleich zärtlich mit einem Zitat aus „Bewitched, Bothered and Bewildered“, dass man ihn zum Büchmann der geflügelten Töne ernennen sollte; auch Brubecks Solo versprüht hier mehr Witz als die ursprünglich ausgewählte Version, die „nur“ ein lyrisches Kleinod ist. Da von zwei Stücken des Originalalbums keine alternate takes existieren, hat man auf hinreißende Aufnahmen zurückgegriffen, die auch bei den Aufnahmesitzungen zu „Time Out“ entstanden. So fand der Walzer „I’m In A Dancing Mood“ nur deshalb nicht auf das Album, weil er kein Original ist. Es wurde dann doch einer von Brubecks „greatest hits“. Normalerweise fristen alternate takes ein Schattendasein. als Anhängsel zu bekannten Alben, die durch ihre Unveränderbarkeit einen zwangsläufigen Verlauf suggerieren. Als eigenes Zwillingsalbum veröffentlicht wird ihnen nicht nur mehr Würde zugestanden. Sie verweisen noch einmal mit Nachdruck darauf, dass wir es bei Jazzalben mit Momentaufnahmen zu tun haben, die auch ganz anders aussehen könnten, hätte ein Produzent oder Musiker eine andere Entscheidung getroffen. (Brubeck Editions)
Wes Montgomerys Hamburger Aufnahmen vom 30. April 1965 waren bislang nicht unveröffentlicht, doch die bisherigen Ausgaben, zumindest die mir bekannten auf Philology und Gambit waren unvollständig, unoffiziell und zum Teil falsch datiert. Nun hat sie der NDR selbst auf einem Doppelalbum herausgegeben, dessen zweiter Silberling eine Bluray ist mit zwei Tage zuvor entstandenen Filmaufnahmen. Ihr Wert ist nicht hoch genug anzusetzen! Denn die Vermarktbarkeit seines einprägsamen Sounds – weicher Anschlag der Saiten mit dem Daumen und imponierende Oktavpassagen – ist schuld daran, dass in den letzten drei Jahren seines allzu kurzen Lebens Montgomerys Platten überwiegend kommerziellen Charakter hatten. Breitenwirksam boten Instrumentalfassungen von Pophits zu eingängigen Bigband- oder Streicherbackground. Abgesehen von „Smokin’ At The Half Note“ zeigen fast nur solche europäischen Aufnahmen jener Tage wie er im Club kompromisslos jazzte, und, hörte man es nicht, kann man auf diesem Album auch sehen wie glücklich er dabei war. Bei den Sessions stand ihm ein Spitzen-Saxophonsatz aus Hans Koller, Johnny Griffin, Ronnie Scott und Ronnie Ross (der auch die Arrangements schrieb) gegenüber und die wendige, gewiefte Rhythmusgruppe aus Martial Solal, Michel Gaudry und Ronnie Stephenson. Da einige von Montgomerys besten Kompositionen auf dem Programm stehen („West Coast Blues“, „Four on Six“ und „Twisted Blues“) und jedermann, nicht nur der Stargast, inspiriert zur Sache ging, kann man die Veröffentlichung nur empfehlen. Sie zeigen einen genialen Solisten in der Auszeit bei einem Ausflug bevor er wieder zurück musste in den goldenen Käfig, den die Plattenfirmen für ihn gebaut hatten.