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Basskracher, Geisterseher, starker „Araber“

Untertitel
Neue CDs mit Neuer Musik, rezensiert von Max Nyffeler
Publikationsdatum
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Theo Nabicht, José Sánchez-Verdú, Peteris Vasks, Simone Mancuso, Saed Haddad

Die Kontrabassklarinette, lange nur zur Erweiterung des Farbspektrums  im Sinfonieorchester eingesetzt, ist im Zuge der Erforschung der Klangspektren zu einem klanglich hoch attraktiven Instrument geworden. Auf seiner Solo-CD vermittelt Theo Nabicht einen Eindruck von ihren riesigen Möglichkeiten. Der Titel „24,9 – Annäherung“ spielt auf die Frequenz des tiefsten Tons an, der auf ihm erzeugt werden kann. Krachende Bässe und ätherische Höhen: Das Spektrum reicht von der gruftigen Tiefe bei Gérard Grisey und den Schattenklängen von Mark Andre über die Klappen-, Blas- und Mundgeräusche bei Georg Katzer bis zu den sublimen Mehrklängen in Nabichts eigener Komposition. (Zeitklang 4032824000634)

Das einstündige Musiktheater „Aura“ von José Sánchez-Verdú nach einer Erzählung des Mexikaners Carlos Fuentes entführt in die Welt des lateinamerikanischen Magischen Realismus. Es geht um zerfließende Identitäten und ein Ineinander von  Totenreich und Lebenswirklichkeit – eine Steilvorlage für die üppige Klangfantasie des Komponisten. Die Geisterbahn-Atmosphäre wird von den Neuen Vocalsolisten Stuttgart und dem Kammerensemble Neue Musik Berlin auf suggestive Weise heraufbeschworen, die Live-Elektronik transformiert die Klänge ins Irreale und öffnet künstliche Räume. (Kairos 0013052)

Die Aufnahme mit den drei Streichquartetten des Letten Peteris Vasks wirft eine grundsätzliche Frage auf: Wie ist diese Musik zu klassifizieren, die – zumindest in den jüngeren Stücken – einen weiten Bogen um die musikalischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts macht und bedenkenlos an die tonale Musiksprache früherer Zeiten anknüpft? Ist es „Neue Musik“? Ist es schamloser Eklektizismus? Soll man von jeglicher historischer Überlegung absehen und den subjektiv durchaus ehrlichen Ausdruck als hinreichenden Ausweis von heutigem Komponieren akzeptieren? Die CD irritiert. Zumindest die Interpretation des vorzüglichen englischen Navarra Quartetts ist über alle Zweifel erhaben. (Challenge Records CC72365)

Wie klingt Holz? Der italienische Schlagzeuger Simone Mancuso demonstriert es in allen denkbaren Varianten: Auf der Marimba in Stücken von Sciarrino und Scelsi, auf einer Vielzahl von mehr oder weniger „naturnahen“ Instrumenten in „Child of Tree“ und „Branches“ von John Cage. Besonders reizvoll sind hier die zum Klingen gebrachten Pflanzen, vom Kaktus über getrocknete Samen und Blätter bis zur Bambusrassel. Weniger reizvoll sind die bis sechsminütigen Takes, die mit „Silence“ betitelt sind und in denen nichts passiert. Das klingt nach Meditation, ist aber vermutlich einfach ein Trick, die 36 Minuten Musik auf die Länge einer CD zu strecken. (Stradivarius STR 33863)

Der 38-jährige Saed Haddad hat einen komplizierten kulturellen Hintergrund und ein entsprechend problemorientiertes Weltbild: Jordanier mit christlichen Wurzeln, Ausbildung in Jerusalem und in London bei George Benjamin und heute in Deutschland lebend, wo die „Araber“ Tagesgespräch sind.
Auf seiner Porträt-CD mit dem Ensemble Modern zeigt er sich als Komponist von ausgewiesenem technischen Können und hoher musikalischer Intelligenz. Sicheres Zeitgefühl und eine ausgeprägte Klangsensibilität, gepaart mit Konfliktbereitschaft und einer geistigen Perspektive, die platte Materialfragen weit hinter sich lässt, machen seine Werke zu einem starken Hörerlebnis. (Wergo 6578 2) 

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