Zwei bewegende Konzerte, die er in den 1970er-Jahren in Buenos Aires gab, liegen nun in verschwenderisch reich bebilderten und kommentierten Ausgaben erstmals in offiziellen Editionen vor. Jeder zweite Pianist bedient sich heute bei Bill Evans, ganz so als wäre sein Œuvre ein gigantischer Steinbruch. Und doch war seine Stellung im Jazz in den 1970er Jahren nicht unbestritten. Manche hielten ihn für einen Musiker, dessen Beitrag zum Jazz sich um 1960 mit dem „First Trio“ erschöpft hatte.
Die Aufmerksamkeit richtete sich damals stärker auf Größen wie Keith Jarrett, Herbie Hancock und Chick Corea, Musiker die von ihm kamen. Die Jazzkritik hatte sich auf die Avantgarde eingeschworen, mit der Bill Evans wenig zu tun hatte. Das Jazz-Publikum, noch nicht auf dem Neo-Bop-Kurs, ließ sich den Jazz-Rock schmecken. Bill Evans hatte gelegentlich jazzferne Songs adaptiert, doch an den neuen Sound keine Zugeständnisse gemacht. So stand er, der die Epoche so sehr prägte, doch gewissermaßen außerhalb von ihr.
Der Doppelsilberling „Morning Glory“ enthält das Konzert, das während seiner ersten Südamerika-Tournee am 24. Juni 1973 im Teatro Gran Rex zu Buneos Aires stattfand. Evans musizierte im Trio mit dem Ausnahmebassisten Eddie Gomez, dem legitimen Nachfolger von Scott LaFaro des First Trio und dem dezenten Drummer Marty Morell, das in dieser Besetzung von 1968 bis 1974 bestand.
Der seit Jahren schwer drogenabhängige Evans unterzog sich zu diesem Zeitpunkt dem Methadon-Programm, das eine ausgleichende, ja beruhigende Wirkung auf ihn und seine Musik ausübte. Sieht man davon ab, dass seine frühere Partnerin Ellaine kurz zuvor Selbstmord verübt hatte, waren die persönlichen Umstände eher harmonisierend; wenige Wochen nach dem Konzert heiratete er Nenette Zazzara. Das Konzert ist mit „The Tokyo Concert“ vom Januar vergleichbar. Obgleich ihn Modeströmungen ebenso wenig kümmerten wie das, was gerade Avantgarde war, gab es keinen musikalischen Stillstand in seiner Entwicklung: „T.T.T.T.“ etwa zeugt von seinem Bestreben selbst der Zwölftonreihe im Thema (nicht etwa in der Improvisation) jazzmäßige Wirkungen abzuringen. Wer mit solchen intellektuellen Späßen begeistern konnte, besaß zugleich die Fähigkeit, Bobbie Gentrys Country-Hit „Mornin’ Glory“ die Würde eines lyrischen Kleinodes zu verleihen. (Resonance Records)
Ein knappes Jahr bevor Bill Evans starb, der bis zuletzt auf Höchstniveau musizierte, machte der bereits Schwerkranke am 27. September 1979 im Teatro General San Martin die Aufnahmen, die auf dem Album „Inner Spirit“ veröffentlicht wurden. Dieses Konzert ist ein geradezu berückendes Dokument seines „Last Trio“ mit dem Bassisten Marc Johnson und dem Drummer Joe LaBarbera. Das letzte Lebensjahr brachte trotz körperlichen Verfalls keinen Rückzug, sondern eine rückhaltlose, intensive Hingabe an die Musik, bei der er seine Kräfte nie schonte. Als sich sein Bruder Harry 1979 das Leben nahm, bereitete ihm das einen ähnlichen Schock wie der frühe Tod LaFaros und der Freitod Ellaines. Es heißt, sein Lebenswille sei gebrochen gewesen. Nahestehende sind sich klar darüber, dass auch Evans’ Drogenkonsum ein Selbstmord auf Raten war. In den letzten Jahren seines Lebens wurde er vom Kokain abhängig. Die aufputschende Droge hatte sicherlich einen Einfluss auf Evans’ neue, funkensprühende Musizierweise. Um alles Ungesagte noch den Tasten anzuvertrauen, neigte er in der Ungeduld des Erwartens des Unvermeidlichen nun zum Treiben und es ist eindeutig er, der dem Rhythmusteam das Tempo aufzwang. Trotzdem bewahrte er sich die Gabe, tief zu berühren und den geheimnisvollen „Evans touch“. Wenige Jazzpianisten beherrschten wie dieser Tastenpoet die Kunst, auf dem Klavier zu singen. Man kann sich kaum daran satt hören, etwa im solo vorgetragenen „I Loves You, Porgy“, das mit zu seinem Besten gehört. Faszinierend auch „Nardis“, jene orientalisierende Komposition von Miles Davis, die der Trompeter selbst nie einspielte, hat Evans (vielleicht der wirkliche Autor) am Lebensende oft „ewige“ Einleitungen vorangestellt, um es mit bohrender Besessenheit von allen Seiten zu beleuchten, als berge gerade dieses Stück den Stein der Weisen, so auch in Buenos Aires in einer 17-minütigen Version. (Resonance Records)