1938 machte Benny Goodman den Jazz in der Carnegie Hall „hoffähig“. Ab 1943 stellte Duke Ellington dort in einer legendären Konzertreihe großangelegte Werke vor, die Signalwirkung hatten: Jazz für den Konzertsaal, nicht für den Tanzboden. Charlie Parkers Aufnahmen in dieser „heiligen Halle“ lassen sich in der 4-CD-Box Complete Carnegie Hall Performances nachhören.
Das älteste Dokument ist das wichtigste: Dizzy Gillespie gab am 29. September 1947 sein erstes Konzert in der Carnegie Hall, ein Triumph für einen Jazzmusiker, zumal für einen Avantgardisten. Gillespie wurde überall als Bebop-König gefeiert, während „Bird“, der 16 Monate an der Westküste (teils im Sanatorium) verbrachte, nur den Insidern als gleichrangiges Genie bekannt war. Der vorsichtshalber nicht angekündigte (da in solchen Dingen unberechenbare) Charlie Parker musste für seinen Auftritt eigens aus der Badewanne geholt, getrocknet und angezogen, ins Taxi gesetzt und auf die Bühne geschubst werden, um einer unvorbereiteten Menge zu Konzertbeginn als Überraschungsgast präsentiert zu werden. Und zwar mit Dizzy und einer aus dessen Orchester zusammengestellten Rhythmusgruppe (John Lewis, Al McKibbon und Joe Harris), die mal untadelig, mal hölzern, aber nie auf dem unerreichbaren Niveau der beiden entfesselten Giganten, assistiert.
Der Freude tut dies kaum Abbruch. Beide können nach einer langen Pause an ihre frühere Zusammenarbeit, insbesondere an ihre ersten gemeinsamen Plattenerfolge wie „Groovin’ High“ anknüpfen. Doch im Vergleich mit diesen ist Birds Spiel besonders aggressiv, der Zuschnitt seiner Improvisationen besonders dramatisch – was angesichts der Umstände dieses Duells nicht überraschen mag. Bird nutzt die Chance dieses wichtigen Konzertes, in dem er ja nur für fünf Titel Gast ist, zu einer Bündelung seiner Kräfte in Improvisationen, die sich in ihrer Dringlichkeit, etwa in „Dizzy Atmosphere“ und „Ko-Ko“, durchaus mit seinen legendäreren messen lassen kann. Und Dizzy, der Held des Tages, bietet relaxt Paroli und lässt gutgelaunt das wütige Genie austoben.
Danach nutzt Parker die Carnegie Hall als Aufnahmeort, bevor am 11. Februar 1949 die einzigen Jazz-at-the-Philharmonic-Aufnahmen (JATP) entstehen, an denen auch Fats Navarro (tp) und Shelly Manne (d) beteiligt waren – mit Ray Brown (b) und Hank Jones (p) in der Rhythmusgruppe. Die Mitwirkung von Navarro ist eine kleine Sensation angesichts der Tatsache, dass er nur wenige Aufnahmen hinterlassen hat. Er war 26 bei diesem Konzert und starb noch im gleichen Lebensjahr. Charlie Parker und Sonny Criss sind hier Seite an Seite zu erleben – was auch 1952 bei der kaum bekannten Inglewood Jam zu einem verblüffenden Ergebnis führen sollte, das hier vorweggenommen wird: Ein Vergleich beider Altisten muss keinesfalls zu Ungunsten des unterschätzen Criss, dessen Sound das Strahlen der Sonne eingefangen zu haben scheint, ausfallen! Bird spielt bei der Begegnung mit seinem Schüler zwar hervorragend, aber „nur“ in mittlerer Tagesform und Spiellaune. Auch in dieser Verfassung ist Parker für gewöhnlich nicht zu überstrahlen und bietet genug, um den Jazz-Freund in Ekstase zu versetzen. Vermutlich bleibt Parker in seiner Gegenwart nur deshalb so gelassen, weil er und alle wissen, dass es des „Vogels“ Federn sind, mit denen er sich schmückt. Aber die schillern in Criss eigenen Farben! Stammt Criss’ Vokabular zwar überwiegend von Bird, so ist sein glänzender, vibrierender Sound mit dem keines anderen zu verwechseln. Wie trocken klingt im Vergleich dazu der große Parker! Hier steht nun der feurige Criss neben seinem Idol und gibt so viel an Leidenschaft, dass einem Bird als Routinier mit angezogener Handbremse vorkommt. Im gleichen Konzert wird er mit Machitos afrokubanischem Orchester aufgenommen. Diese Aufnahmen waren bislang unveröffentlicht und dürften das größte Interesse der Sammler wecken, doch Bird wird bei schlechter Aufnahmequalität vom Orchester fast übertönt.
Nach einigen JATP-Konzerten mit Größen wie Coleman Hawkins, Ella Fitzgerald, Roy Eldridge und seinem früheren Vorbild Lester Young, wird an Heiligabend 1949 endlich ein Konzert seines eigenen regulären Quintetts mit Red Rodney (tp), Al Haig (p), Tommy Potter (b) und Roy Haynes (d) aufgenommen – unter anderem mit einem atemberaubenden „Ko-Ko“-Solo und einer überraschenden Satchmo-Verbeugung – er zitiert in „Cheryl“ dessen Einleitung zum „West End Blues“ – ein wahres Glanzstück unter Birds Aufnahmen. 1950 und 1952 wird Parker mit seiner Streichergruppe aufgenommen, im zweiten Falle mit anschließender hörenswerter Jam Session mit Gillespie und dem Conguero Candido. Das letzte Konzert findet 1954 mit Dreiviertel des MJQ (John Lewis, Percy Heath und Kenny Clarke) statt und zeigt Bird nicht ganz auf der Höhe (doch meilenweit über jedem Durchschnitt). Es sind die allerletzten Live-Aufnahmen des Genies. (Bird’s Nest)