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Charlie Parkers Dial-Aufnahmen

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Jazzneuheiten, vorgestellt von Marcus A. Woelfle
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Charlie Parkers Schellacks, die er 1946 und 1947 für das kleine, feine Label Dial einspielte, sind eines der bedeutendsten Monumente der Jazzgeschichte. Eine vollständige, um einige Raritäten ergänzte Edition liegt nun zu einem Schleuderpreis vor. „The Complete Dial Sessions“ nennt sich die bei „Bird’s Nest“ erschienene 4-CD-Box. Im Gegensatz zu früheren Ausgaben enthält sie über eine Stunde mehr Musik, die allerdings nur zum Teil mit Dial im Zusammenhang steht.

Ross Russell, der Inhaber des Labels Dial, war ein echter Jazzfan. Im Gegensatz zu anderen Produzenten ließ er dem Bandleader freie Hand bei der Auswahl der Musiker und des Repertoires. So brachte Parker zu vielen Aufnahmen sein Quintett mit dem blutjungen Miles Davis mit, der mit seinem coolen Trompetenstil eine wunderbare Kontrastfolie zu Parkers quirligem Spiel darstellte. Russell ließ „Bird“ Originals einspielen, die wie „Yardbird Suite“ und „Cool Blues“ Standards und Mus­terstücke des Bebop wurden. Russell überlieferte der Nachwelt die höchsten Höhenflüge „Birds“ wie den selbst von ihm nicht mehr übertroffenen „Famous Alto Break“ aus „Night in Tunisia“ und „Embraceable You“, die wohl vollendetste Balladeninterpretation des Bebop. Russell dokumentierte aber auch einen schmerzlichen Tiefpunkt: die Aufnahmesitzung, bei der das Altsaxophongenie kaum spielfähig war und während eines Zusammenbruchs ein erschütterndes „Lover Man“ einspielte. Unmittelbar darauf musste der Drogensüchtige einige Monate in ein Sanatorium, aus dem er mit Russells Hilfe entlassen wurde. Man hat Russell vorgeworfen, er habe die Schwäche Parkers ausgenutzt, um mit ihm Geschäfte zu machen, doch er hat zu seinem Ruhm beigetragen wie kaum einer. Es war Russells Idee, auch die „alternate takes“ auf Platten zu veröffentlichen, da Parker auf jedem geniale und ganz unterschiedliche Improvisationen spielte. Übrigens lieferte Parker schon bei den ersten Takes vollkommene Würfe, während die anderen Musiker oft erst von take zu take eine Konzeption für das Solo entwickelten. „Bird“ hat Russell nicht verziehen, dass er die „Lover Man“-Session veröffentlichte, doch der Produzent versuchte es mit seiner Parker-Biographie „Bird Lives“ wiedergutzumachen. Bird selbst hat die Scharte ausgewetzt durch die glattere, spätere „Lover Man“-Version für Verve. Aber wer würde auf dieses bewegende Dokument Russells verzichten wollen?

Nun zu den Bonus-Aufnahmen. Darunter ist die zuvor nur unvollständig veröffentlichte „Home Cookin’“-Session, wobei immerhin ein Stück, „I Got Rhythm“ („Home cooking III“) vom 1.2.1947, auf dieser Zusammenstellung erstmals in Gänze vorliegt! Gleich am Tag nach der Entlassung aus dem Sanatorium fuhr Russell mit Parker auf eine Party. Die dort entstandene Musik wurde privat mitgeschnitten. Vollständig in der Box sind noch folgende zum Teil bislang auf eher entlegenen Alben zu findende Sessions enthalten: die berühmten Aufnahmen des Dizzy Gilles­pie-Quintetts vom 11.5.1945, bei denen Sarah Vaughan „Lover Man“ singt; die kaum bekannte Session mit dem Sänger und Posaunisten Clyde Bernhardt vom Januar 1945 und die berüchtigten Aufnahmen mit dem Bluessänger Rubberlegs Williams vom 4. Januar 1945. Dieser hatte während der Session aus Versehen Parkers Kaffee getrunken, in den der Saxophonist in Ermangelung anderer Drogen Unmengen Benzedrin geschüttet hatte, das damals in niedriger Dosierung gegen Asthma Verwendung fand. Dem Mann wurde ganz anders und es ist hörbar keine Attitude, wenn er shoutet, er habe den Blues. Eigentlich bräuchte es eine 5. CD, um das Kapitel Parker & Dial wirklich abzuschließen. Sie müsste die Aufnahmen von Red Norvo and his Selected Sextet mit Charlie Parker enthalten, die ja seinerzeit bei Dial erschienen waren. Und all jene Aufnahmen, die an Parkers Aufnahmeterminen für Dial ohne ihn entstanden, so die Aufnahmen, bei denen der Trompeter Howard McGhee nach dem Loverman-Zusammenbruch ohne ihn spielen musste und die Erroll Garner-Aufnahmen, der berühmten Cool-Blues-Session bei denen „Bird“ pausierte.

In puncto Klangrestauration hätte man sich deutlichere Fortschritte erhofft. Aufnahmen, die man nur mit knisterndem Lagerfeuerhintergrund kennt, etwa „Diggin Diz‘“, knacken und rauschen immer noch und werden das wohl für alle Zeiten tun. Von den Dials gibt es nämlich keine Tonbänder oder Originalmatritzen. Das vorausgeschickt, ist die Edition klanglich untadelig. Und sie sollte, als bisher umfassendste, in keiner Sammlung fehlen.

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