Glenn Gould verabschiedete sich 1964 nach eigener Aussage auch deshalb vom Konzertsaal, um mehr Zeit zum Komponieren zu haben. Doch als Komponist hat man von ihm – abgesehen vom scherzhaften „So You Want To Write A Fugue?“ – kein weiteres Lebenszeichen vernommen. Brauchte er vielleicht bloß einen Vorwand?
Nicht ganz, denn umso stärker widmete sich Gould neben seiner umfangreichen Aufnahmetätigkeit für Columbia Masterworks dem Radio, genauer: dem kanadischen Rundfunk CBC. Hierin folgte er teils einem pädagogischen Impetus, teils einer essayistischen Ader, die manchem Leser aus seinen Aufsätzen vertraut sein wird. Letzterer verdanken wir die mehr legendären Ruf als tatsächliche Bekanntheit genießende „Solitude Trilogy“, ein Triptychon knapp einstündiger Radioessays mit aufsteigendem Schwierigkeitsgrad für Produzenten und Rezipienten. War der erste Teil, „The Idea Of North“ (1967), noch monophon, inaugurierte das die Provinz Neufundland behandelnde Nachfolgewerk „The Latecomers“ 1969 die damals neue Stereotechnik.
Den Nachzügler „The Quiet In The Land“ über die religiöse Gruppierung der Mennoniten (Erstsendung 1977) hätte Gould gerne vierkanalig abgemischt, aber die kurzfristig erwogene Quadrophonie wurde dann doch wieder fallen gelassen. Die besondere Ironie der Sendungen besteht darin, dass sie bei einmaligem Hören nicht wirklich zu erfassen sind; und wer sich noch gezwungen sah, „The Latecomers“ in mono zu folgen (und das war damals die überwältigende Mehrzahl der Hörer), war aufgeschmissen, da Goulds ureigene Erfindung des „contrapuntal radio“ im Grunde auf die Verteilung der unterschiedlichen, über weite Strecken gleichzeitig zu hörenden Sprecher auf das Stereospektrum angewiesen ist. Die Stimmen (im Wortsinn) setzen gestaffelt nacheinander ein wie bei einer Fuge, behandeln dabei ähnliche Themen mit unterschiedlichem Ergebnis und treten dann wieder in den Hintergrund.
Als Cantus firmus dienen in der ersten Sendung Fahrgeräusche der Eisenbahn, in der zweiten Brandungslärm, in der dritten ein Gottesdienst. Es kommt nicht darauf an, alles zu verstehen, sondern polyphone, das heißt in diesem Fall pluralistische Antworten auf die (herausgeschnittenen) Fragen zu bekommen, die Gould seinen Interviewpartnern gestellt hat. Sein Lieblingsthema, die zwangsläufig einsame Rolle des Künstlers am Rande oder auch außerhalb der Gesellschaft, durchzieht die Sendungen wie ein roter Faden. Seiner Aufassung nach können nur in der selbst gewählten Isolation wahre Kunstwerke entstehen – und daran, dass diese Rundfunkessays ebensolche darstellen, ist nicht zu rütteln.
Als Zuwaage enthält die preiswerte Box noch zwei Musikerportraits von Gould, die in leichter fasslicher Form Verfahren der Trilogie wiederaufgreifen – ein langes, ursprünglich zweiteiliges des Cellisten und Humanisten Pablo Casals und eines über den „ekstatischen“ Dirigenten Leopold Stokowski, der trotz seines hohen Alters mit Gould die Faszination an der stetig verbesserten Tonaufzeichnung, aber auch an der ethischen Höherentwicklung der Menschheit teilte. Summa summarum also fünf manchmal anstrengende, im Gegenzug eine Fülle von Denkanstößen liefernde „Hörbücher“, die in keinem anderen Medium funktionieren würden.