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Edgard Varèse. Déserts. Orchestre National de France, Hermann Scherchen; Gespräche mit Georges Charbonnier, INA mémoire vive IMV075 (2 CDs) (Harmonia Mundi)
Edgard Varèse. Déserts. Orchestre National de France, Hermann Scherchen; Gespräche mit Georges Charbonnier, INA mémoire vive IMV075 (2 CDs) (Harmonia Mundi)
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Der organisierte Klang des Edgard Varèse

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Eine CD-Edition erinnert mit dem Uraufführungsmitschnitt und Komponistengesprächen an 60 Jahre „Déserts“
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2015 wird auch ein Varèse-Jahr: Im November 1965 ist er in New York gestorben. Elf Jahre zuvor, nämlich am 2. Dezember 1954 – also vor exakt 60 Jahren – erlebte die Stadt Paris einen ihrer letzten echten Uraufführungs-Skandale: „Déserts“ für Orchester und Zweispur-Tonband. Das Orchestre National de France dirigierte Hermann Scherchen, an den Reglern saß Pierre Henry. Varèse musste mitanhören, wie seine Musik immer wieder von Lachsalven, Buhrufen und erbitterten Wortgefechten zwischen Befürwortern und Gegnern übertönt wurde. Dass Henry sukzessive die Lautstärke der Tonbandwiedergabe erhöhte, provozierte die Spötter nur noch mehr. Anschließend räumte Varèse mit Tränen in den Augen ein, nichts anderes erwartet zu haben: Der Siebzigjährige war seiner Zeit eben immer noch voraus.

Seinen ersten Skandal hatte Varèse bereits 1910 in Berlin mit seiner symphonischen Dichtung „Bourgogne“ erlebt, unter Stabführung von Richard Strauss. Ob die Reaktionen damals gerechtfertigt waren, lässt sich nicht mehr nachvollziehen: Nachdem bereits sämtliche anderen Vorkriegswerke des 1883 Geborenen einem Brand zum Opfer gefallen waren, hat Varèse noch im Alter eigenhändig die „Bourgogne“-Partitur vernichtet. Fast aus Versehen blieb allein das kleine Verlaine-Lied „Un grand sommeil noir“ von 1906 erhalten, sodass wir nie erfahren werden, wie sich seine Jugendwerke anhörten (eine erste Oper schrieb er als Zehnjähriger, noch in Italien, gegen den Willen seiner Eltern). So wurden die gewaltigen „Amériques“, ein Gruß an seine neue Heimat, nach dem Ersten Weltkrieg das eigentliche Opus Eins. Das Dutzend bis zu seinem Tod mit fast 82 Jahren vollendeter und damit gültiger Werke füllt gerade zwei CDs; der gleichaltrige, keine überflüssige Note verschwendende Webern war ein Vielschreiber dagegen. Doch nicht seine geradezu stereotyp von Skandalen („Ionisation“!) begleitete Laufbahn war es, die Varèse an vielen seiner Werke zweifeln ließ, sondern die grundsätzliche Überlegung, ob Musik im althergebrachten Sinne überhaupt das war, was ihm als schöpferischer Mensch vorschwebte. Er sprach lieber vom „son organisé“, mit dem er die bislang streng befolgte Trennung zwischen Ton und Geräusch, auf herkömmlichen Instrumenten hervorgebrachten Tönen einerseits und elektroakustisch erzeugten oder zumindest transformierten Klängen andererseits, auszulöschen trachtete.

Dabei stand er jedoch dem praktischen Problem gegenüber, dass die vollelektronischen, auf das Zwischenglied des Interpreten verzichtenden Tonerzeuger, die er zeitlebens herbeisehnte, noch nicht existierten; nicht einmal ein Elektronisches Studio, in dem er immerhin ab 1950 seine Klangforschungen hätte betreiben können, gab es in den Vereinigten Staaten, deren Staatsbürgerschaft und Sprache er längst angenommen hatte. Also kehrte er von dort ins alte Europa zurück, um die Bandzuspielungen für die „Déserts“ und später das berühmte „Poème électronique“ für die Weltausstellung in Brüssel 1958 zu realisieren. Die Erfindung des Moog-Synthesizers, die Entwicklung der Computermusik sowie das wachsende Potential der Klang-umwandlungen in Echtzeit, wie sie die elektroakustische Musik ermöglicht, hat er nicht mehr erlebt – ebensowenig wie den Siegeszug der historisch informierten Aufführungspraxis Alter Musik, die er als profunder Kenner und Liebhaber von Monteverdi, Schütz & Co. ausdrücklich guthieß.

Dies und vieles andere Bedenkenswerte mehr erfahren wir auf einer äußerst instruktiven Doppel-CD der INA (Das Institut national de l’audiovisuel widmet sich der Aufarbeitung, Konservierung und Veröffentlichung der französischen Radio- und Fernsehgeschichte). Darauf sind neben dem Uraufführungsmitschnitt der „Déserts“ acht zwischen zwölf und zwanzig Minuten lange Kondensate aus Gesprächen zu finden, die Edgard Varèse zur Jahreswende 1954/55 mit dem Kritiker Georges Charbonnier führte.

Einziger Wermutstropfen: Selbst die zwei ausführlichen Beiträge des Booklets gibt es ausschließlich in französischer Sprache. An den nicht-frankophonen Interessenten wurde offenbar nicht gedacht, oder es war kein Budget für eine Übersetzung vorhanden. Und der „Déserts“-Skandal? Die mit herkömmlichen Instrumenten vorlieb nehmenden Partien waren schon seinerzeit geradezu „klassischer“ Varèse, wie man ihn von den Werken der Zwischenkriegszeit hätte kennen können – wenn diese bis dahin regelmäßig aufgeführt worden wären. Aber die Varèse-Pflege der von Boulez geleiteten „Domaine musical“ hatte gerade erst begonnen. Die elektronischen Anteile hingegen spalteten vor sechzig Jahren das Publikum zurecht: Die Technik steckte einfach noch in den Kinderschuhen. Die in mühsamer Kleinarbeit erzeugten Effekte, auf welche die elektronischen Studios seinerzeit so stolz waren, geben inzwischen wirklich Anlass zu unfreiwilliger Komik. Ironie der Geschichte: Die Klänge, welche Bläser und Schlaginstrumente erzeugen, wirken immer noch so kompromiss- und zeitlos modern, vor allem aber so un-anekdotisch, wie es immer das Ideal des Edgard Varèse gewesen war.

CD-Hinweis
Edgard Varèse. Déserts. Orchestre National de France, Hermann Scherchen; Gespräche mit Georges Charbonnier, INA mémoire vive IMV075 (2 CDs) (Harmonia Mundi)

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