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Dirigent und Komponist ohne Berührungsängste. Foto: Henry Tregillas, New York Philharmonic Archives
Dirigent und Komponist ohne Berührungsängste. Foto: Henry Tregillas, New York Philharmonic Archives
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Der unverwechselbare Eklektiker

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Leonard Bernsteins Schaffen ist ein Plädoyer für musikalischen Pluralismus
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Eine opulente CD-Box der Deutschen Grammophon und eine Buchpublikation im Laaber Verlag laden dazu ein, vor lauter Jubel über den Interpreten und Musikvermittler den Komponisten Leonard Bernstein nicht zu vergessen.

Wirft man einen Blick auf den Werkkatalog Leonard Bernsteins, so ist es eigentlich nicht zu glauben: Wie konnte dieser Mann neben seinen Aktivitäten als Dirigent und Pianist im Konzertsaal, im Aufnahmestudio und auf Reisen, als Moderator von Familienkonzerten und Fernsehprogrammen, als belesener, politisch engagierter Bürger und nicht zuletzt als Familienvater auch noch all dies komponieren? Zugegeben, vieles war schon zu Papier gebracht, bevor Bernstein 1958 den Posten als Musikdirektor der New Yorker Philharmoniker antrat: Klavier- und Kammermusik, zwei Symphonien, die wunderbare Konzert-Serenade für Violine, Lieder und Chorwerke, Ballett-, Schauspiel- und Filmmusik, vier Musicals – darunter die Geniestreiche „Candide“ und „West Side Story“ – eine Kurzoper …

Doch auch nach dieser Lebensentscheidung zugunsten des Dirigentenberufs wuchs das Œuvre noch in beachtlicher Weise an, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Ist vor 1958 der Plan zu erkennen, regelmäßig in vielen Gattungen Werke auf hohem Niveau zu schreiben, entstanden danach zum einen Gelegenheitswerke (darunter sehr gelungene) oder Bernstein ging einige wenige Kompositionen mit dem hohen Anspruch an, Gültiges zu hinterlassen. Dass ihm dies dann nur bis zu einem gewissen Grad gelang, ist eine von vielen Erkenntnissen, die man nun aus den 26 CDs und drei DVDs der nicht wirklich bis ins entlegenste Werk vollständigen, aber doch beachtlichen „Complete Works“-Box der Deutschen Grammophon ziehen kann: Die dritte Symphonie „Kaddish“ übertrifft ihre Vorgänger im kompositorischen Aufwand und im Willen zum Bekenntnis, nicht aber in der Überzeugungskraft; „A Quiet Place“ entwickelt (erst Recht ohne den eingeschobenen, auf leichtfüßige, aber nie oberflächliche Art gelungenen Ehekrisen-Einakter „Trouble in Tahiti“ von 1952) in seinem empathischen Blick auf eine dysfunktionale Familie wenig musikdramatischen Sog; die posthum aus einigen Abschnitten zusammengestellte „White House Cantata“ lässt, einiger gelungener Nummern zum Trotz, erkennen, warum das Historienmusical „1600 Pennsylvania Avenue“ 1976 grandios floppte; und der ambitionierten, in vielen Nummern mitreißenden „Mass“ hört man an manchen Stellen das Entstehungsjahr 1971 auf unvorteilhafte Weise an.

Ein herbes, kraftvolles Werk ist Bernstein 1974 mit dem Ballett „Dybbuk“ gelungen. Dabei ist neben Prokofieff natürlich vor allem der Strawinsky des „Sacre“ ein unverhohlen hörbar gemachter Referenzpunkt. Womit wir bei der für die musikhistorische Einordnung (und Bewertung) des Komponisten Bernstein zentralen Kategorie wären: dem Eklektizismus. So verblüffend, unverwechselbar und brillant manche am Jazz orientierte harmonische Wendung und Synkope, manches sperrige und dann doch so eingängige Melodieintervall („Some other time“ aus „On the town“ und natürlich „Maria“ aus der „West Side Story“) und manche Orchestermixtur bei Bernstein ist – fast immer schwingt bei der Begegnung mit seiner Musik der Eindruck mit, das so oder ganz ähnlich schon einmal gehört zu haben. Auf einer entsprechenden Assoziationsliste könnten (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) ganz allgemein Namen wie Gershwin und Weill, Copland und Blitzstein, Britten und Schostakowitsch, Sullivan und Offenbach stehen. Neben ganz bewussten Anspielungen auf konkrete Werke (Coplands „Fanfare for the common man“ am Beginn von „Fancy Free“, Mahlers „Aufschrei der Verzweiflung“ aus der 2. Symphonie in „Facsimile“, Strawinskys „Feuervogel“-Finale am Ende von „Candide“) sind immer wieder auch allgemeine Anklänge zu vernehmen (Ives-Überlagerungen in der „Shivaree“-Fanfare oder das cineastische Funkeln eines Korngold in „Peter Pan“).

Aber was heißt das nun? Fehlte es Bernstein an der kreativen Potenz, einen eigenständigeren, nicht auf Entlehntes, Geborgtes oder gar Geklautes angewiesenen Tonfall zu finden? Oder ist nicht vielmehr eben dieses Geflecht aus regelrechten Zitaten, Allusionen und entfernten Echos eine der Voraussetzungen für die Unverwechselbarkeit von Bernsteins Stimme, gar ihre Essenz? Vieles, was man nun in der DG-Box hören kann, spricht dafür, dass Letzteres der Fall ist, und auch der von Andreas Eichhorn bei Laaber herausgegebene Band „Leonard Bernstein und seine Zeit“ hält in vielen Beiträgen profunde Argumente dafür parat.

Explizit setzt sich darin Frédéric Döhl mit dem Begriff auseinander und kommt zu dem Schluss, dass Eklektizismus bei Bernstein eine „Lebenseinstellung“ gewesen sei, der Begriff mithin nicht als Verdikt gegen den Komponisten tauge. Tiefer dringt Wolfgang Lessing in seiner scharfsinnigen Analyse der „Norton Lectures“ von 1973 vor (auf deutsch als „Musik, die offene Frage“ erschienen). Für Bernstein habe der Ausweg aus der „Grundlagenkrise“ – nicht nur der Musik, sondern der Kunst allgemein – seit Ende des 19. Jahrhunderts in einer „Radikalisierung des Metaphern-Begriffs“ bestanden. „Wenn es zum Wesen der Musik gehört“, so Lessings Zusammenfassung, „immer und überall ‚Musik über Musik‘ zu sein – in dem Sinne, dass jeder Takt, jede Note eines Werkes als Transformation einer anderen wahrgenommen werden kann – so liegt es nahe, diesen Zeichencharakter so zu intensivieren, dass auch scheinbar unvereinbare Komponenten – tonale, nicht-tonale, elektronische, serielle, aleatorische‘ – im Gefüge eines Werkes miteinander in Beziehung gesetzt werden“. Lessing sieht darin Bernsteins „programmatischen Eklektizismus“ ausformuliert, „der sicher auch für Bernsteins eigenes kompositorisches Schaffen gelten“ könne.

Von den am Ende des Bandes versammelten (leider wenigen) Werkporträts überzeugen besonders die gehaltvollen Beiträge zur „West Side Story“ und zum „Songfest“ (einem überzeugenden, vielschichtig „amerikanischen“ Hauptwerk aus der zweiten Schaffensphase). Dass auch dem „Divertimento for Orchestra“ ein kompletter Beitrag gewidmet ist, überrascht in diesem Kontext zunächst, doch gelingt es Peter W. Schatt gerade anhand dieses geistreichen Gelegenheitswerks (zum 100. Geburtstag des Boston Symphony Orchestra) zum Kern von Bernsteins eklektizistischer Agenda vorzudringen. Für Schatt ist das „Divertimento“ nichts Geringeres als die „tönende Antwort auf die Frage nach der musikalischen Zukunft“ und er erinnert an das Ende von Bernsteins „Norton Lectures“, wo dieser in Bezug auf Ives’ Orchesterstück „The unanswered question“ formulierte: „Ich weiß zwar nicht mehr genau, welche Frage er stellt, aber ich weiß: die Antwort ist ‚Ja‘“. Schatt interpretiert das „Divertimento“ als ein Auskomponieren dieses ‚Ja‘: „Es ist das tönende Plädoyer nicht für die Experimente der Avantgarde, sondern für eine gemäßigte, ‚hörbare‘ Moderne, die mit ihrem Tonmaterial, ihrer Tonalität, ihrer Rhythmik und ihren Klangfarben erkennbaren Bezug zum Gewohnten nimmt – zwar mit Zeichen der Störung, ohne aber selbst zu stören oder gar zu zerstören.“

In seinem Bekenntnis zu einer musikalischen Pluralität hat Bernsteins kompositorisches Schaffen immer noch viel Aktualität und Überzeugungskraft zu bieten. Es wäre an der Zeit, dem hierzulande im Konzertsaal auch einmal jenseits der „Candide“-Ouvertüre und der Tänze aus der „West Side Story“ nachzulauschen.

Bernstein – Complete Works. Deutsche Grammophon (26 CDs, 3 DVDs)

Andreas Eichhorn (Hg.): Leonard Bernstein und seine Zeit, Laaber Verlag, Laaber 2018, 407 Seiten, Abb., Notenbsp., € 37,80, ISBN 978-3-89007-768-0

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