Hauptrubrik
Banner Full-Size

Die chinesische Flöte

Publikationsdatum
Body

Nachkriegsdeutschland – Dresden gleicht einer Trümmerlandschaft. Inmitten einer völlig zerstörten Innenstadt sind die Menschen damit beschäftigt ihre Stadt, ihr Leben wieder aufzubauen. Auch der Musik- und Theaterbetrieb nimmt unter unvorstellbar einfachen Bedingungen seine Spielzeit wieder auf. Im fast unbeschädigten Seitenflügel des Deutschen Hygiene-Museums richtet sich der Sender Dresden ein provisorisches Quartier ein, in dem sich die Musiker der Dresdener Staatskapelle regelmäßig mit den Solistinnen und Solisten der Staatsoper treffen, um gemeinsam Rundfunkaufnahmen einzuspielen.

Hier entstehen im September 1948 und im Februar 1949 die Einspielungen mit Werken von Paul Hindemith und Ernst Toch, die die Edition Staatskapelle Dresden nun in einer Gesamtausgabe veröffentlicht hat. Ernst Toch, der als jüdischer Komponist 1933 in die USA emigrieren musste, bezeichnete sich selbst in den 1960er-Jahren als den „am gründlichsten vergessenen Komponisten der Welt“. Auch die Musik Paul Hindemiths fiel dem Sende- und Aufführungsverbot des Naziregimes zum Opfer, mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird ein Teil seiner Werke als kulturbolschewistisch bezeichnet. 1938 verlässt er gemeinsam mit seiner jüdischen Frau Gertrud von Rotenberg Deutschland.

„Wiedergutmachung und Nachholbedarf“ sind die Leitgedanken dieser historischen Aufnahme. In Paul Hindemiths Liederzyklus „Die junge Magd“, nach einer literarischen Vorlage von Georg Trakl, vermittelt Ruth Lange eindrucksvoll das zermürbende Gefühl der Einsamkeit, welches das lyrische Ich in seinem langsamen Entfremdungs- und Verfallensprozess begleitet. Dabei tritt das Kammerensemble unter der Leitung von Joseph Keilberth in dem überwiegend homophon gestalteten Satz und einer an der Altstimme orientierten Stimmführung immer wieder unterstützend in den Vordergrund. Gemeinsam eröffnen sie dem Zuhörer einen Innenblick in die verlorene Seele der Magd – und rühren damit an die Empfindung so mancher Zeitgenossen, die das Martyrium des Krieges miterlebten.
Identifikation mit einer anderen, diesmal fernen exotischen Welt erreicht auch die legendäre Sopranistin Elfride Trötschel.

Mit ihr ist das Ensemble um Hans Löwlein für die Einspielung von Ernst Tochs „Chinesischer Flöte“ hervorragend besetzt. Mit 14 Soloinstrumenten schafft Toch eine orientalische Atmosphäre, die den expressionistischen Ton der drei Gedichte aus der gleichnamigen Lyriksammlung von Hans Bethge trifft. Musik, Begleitheft und zwei Interviews mit den Gesangssolistinnen dokumentieren einen eindrucksvollen Moment deutscher Musikgeschichte.  

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!