nmz 2000/10 | Seite 35
49. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Die etwas andere Art, Bach zu ehren
Stuttgarter Bachakademie vergab Kompositionsaufträge für eine Passion 2000
Die Stuttgarter Bachakademie und ihr künstlerischer Leiter Helmuth Rilling haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten Bach so ausgiebig präsentiert, bis hin zur vollmundig als „Jahrtausendedition” hochgepowerten CD-Edition des Gesamtwerks, dass zum Bach-Jahr 2000 keine Steigerung mehr möglich schien. So hat man im Haus an der Stuttgarter Hasenbergsteige eine kühne Volte in die Zukunft geschlagen und vier zeitgenössische Komponisten gebeten, die zentralen Passionsberichte der Bibel mit den Mitteln der heutigen Musik zu vertonen.
Wer befürchtet hatte, dass sich die Omnipräsenz der beiden überlieferten großen Passionen Bachs einschüchternd, ja lähmend auswirken könnte, sah sich angenehm enttäuscht. Die dramatischen Ereignisse der von den vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes niedergeschriebenen Leidensgeschichte des Gottessohnes lassen – jenseits einer im engeren Sinne christlichen Textexegese – unterschiedliche musikalische Zugänge zu, die die vier verschiedenen Kulturkreisen entstammenden Komponisten Tan Dun, Osvaldo Golijov, Sofia Gubaidulina und Wolfgang Rihm denn auch ergriffen haben.
Zwar stand Bachs „Johannes-Passion” programmatisch am Beginn des zweiwöchigen Europäischen Musikfestes – aber auch hier nicht in einer retrospektiven, sondern in einer nach vorne gerichteten Interpretation durch Joshua Rifkin, der überzeugend unter Beweis stellte, dass seiner fundamentalistischen Auslegung der zeitgenössischen Aufführungspraxis wohl die Zukunft gehört. Mit der Chortradition des romantischen 19. Jahrhunderts wird hier radikal aufgeräumt: zu den vier Gesangssolisten treten vier Ripienisten, so dass jede Chorstimme nur mit zwei Sängern beziehungsweise Sängerinnen besetzt ist. Die atmende Klarheit dieser auf Zurückhaltung und nicht mehr auf Repräsentation setzenden Lesart ist überwältigend und schlägt unbeabsichtigt, aber wie selbstverständlich die Brücke zur „Water Passion after St. Matthew” des in New York lebenden chinesischen Komponisten Tan Dun.
Dun, der zu den Kultkomponisten der amerikanischen Postmoderne gehört, verbindet in seinem fast zweistündigen Werk Elemente der fernöstlichen mit der westlichen Musiktradition zu einer faszinierenden Einheit. Am Anfang seiner musikalischen Vision der Passionsgeschichte stehen die Elemente: 17 durchsichtige, beleuchtete Wasserschalen sind in Form eines Kreuzes auf der Bühne angeordnet. Die Passion vollzieht sich im Zeichen des Wassers – von der Taufe im Jordan bis zur Auferstehung –, mit Klängen, in denen Naturlaute und Kunsttöne immer wieder aneinandergrenzen, sich ablösen, ja sich vermischen.
Die Wassergeräusche verbinden sich mit den oft melismatisch fremdartigen Klängen der beiden einzigen Streicher – einer Violine und einem Cello –, tibetanischer Mönchsgesang mit gregorianischer Psalmodie, das Spiel mit geschliffenen Steinen mit dem Flüstern und den Schreien des Chores. Duns Ziel ist es, das religiöse Geschehen magisch zu überwölben – was ihm oft, aber nicht immer gelingt. Wenn am Ende alle Mitwirkenden zu den Wasserschalen gehen, um ihre Hände darin einzutauchen, wird das Ritual zum Kunstgewerbe. Dun, der seine „Water Passion” in acht Szenen eingeteilt hat, hält die Spannung – die nur gegen Ende, in den etwas allzu vordergründigen Perkussionsklängen des Erdbebens und der choralartigen Wasserprozession der Auferstehung nachlässt – mit den Mitteln eines souverän disponierenden Klangregisseurs aufrecht. Die von ihm selbst geleitete Aufführung – unter anderem mit dem in allen Artikulationsarten firmen RIAS-Kammerchor sowie den beiden Vokalsolisten Elizabeth Keusch und Stephen Bryant – war von hohem ästhetischem Reiz, der gewiss auch der eindrucksvollen halbszenischen Präsentation zuzuschreiben ist. Ob er hält, was er suggeriert, können erst weitere Begegnungen mit dem Werk erweisen.
In krassem Gegensatz zu Tan Duns „Water Passion” stand die „Pasión Según San Marcos”, die Markuspassion des wie Dun heute in New York lebenden Osvaldo Golijov. Der 1960 in Argentinien als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer geborene Golijov ist weniger wählerisch und weniger überzeugend in seinen Mitteln als Dun. Auch Golijov geht es um Darstellung und Ritual. Er versetzt seinen „dunklen” Jesus, der ihn an den kubanischen Revolutionär Ché Guevara erinnert, in die karnevaleske Kultur Lateinamerikas mit ihren afrokubanischen Rhythmen, schreckt selbst vor seifigen Popballaden nicht zurück und verquirlt am Schluss auch noch das Kaddish, das jüdische Totengebet, mit den Flamenco- und Samba-Tänzen. Und zu einer philharmonisch kolorierten Folklorepostkarte geriet auch die von der Schola Cantorum de Caracas unter Maria Guinand perfekt, aber naiv hochgeputschte Aufführung, die einen schalen Nachgeschmack hinterließ.
Komponierte Folklore ist weder Folklore noch Konzertmusik, sondern landet – zumal in dieser kitschigen Mischung aus Tanzpalast und Popsong – im Niemandsland des Crossover. Golijovs Passionsmusical besitzt nichts vom Aufruhr, vom Schmerz und der rituellen Anarchie der synkretistischen afrokubanischen Kultur, sondern eignet sich als gezähmte schwarze Messe geradewegs für den Broadway, wo es wohl auch landen wird.
Wenn zwei dasselbe tun, machen sie nicht das Gleiche. Dieses Sprichwort bewährte sich nicht nur an Tan Duns und Osvaldo Golijovs Versuch, den Gründungsmythos des abendländischen Christentums von außereuropäischen Kulturen her zu beleuchten, sondern auch an den so unterschiedlichen Werken, mit denen der agnostische Nietzscheaner Wolfgang Rihm und die gläubige Russin Sofia Gubaidulina die schwierige Aufgabe einer existentiellen Vergegenwärtigung des biblischen Berichts übernommen haben.
Rihm, für den Religion, wie er im Gespräch gesagt hat, „Ehrfurcht vor dem Namenlosen” ist, ging mit der bei ihm gewohnten Mischung aus Reflexion und Zielstrebigkeit ans Werk. Seine Lukaspassion – „DEUS PASSUS. Passions-Stücke nach Lukas” – zeigt in ihrer dramatischen Anlage und musikalischen Gestalt am deutlichsten die Auseinandersetzung mit dem Vorbild Bach. Zwar ordnet Rihm den Solisten keine Rollen zu. Selbst der Passionsbericht wird kollektiv vorgetragen und damit gleichsam ‚namenlos’ in die Distanz gerückt.
Aber Rihm sucht nach modernen Entsprechungen von Bachs musikalischer Textausdeutung. Auch seine Passion, über weite Strecken eine in sich hinein erklingende Musik des Schweigens und der Stille, kennt neben dem Evangelistenbericht dramatische Turba-Chöre und reflektierende ariose Episoden, deren Texte Rihm der lateinischen Karfreitagsliturgie entnommen hat. Am Schluss tritt er mit der Vertonung von Paul Celans Gedicht „Tenebrae” aus der biblischen Vorlage heraus und verknüpft dergestalt das christologische Heilsgeschehen mit dem Martyrium des jüdischen Volkes in den Vernichtungslagern des nazistischen Holocaust.
Rihms Musik ist fast durchweg kammermusikalisch karg, kaum dramatisch akzentuiert, im Gegenteil ganz verinnerlicht und auf einen Mahlerschen Abschiedston gestimmt, der hohen Respekt abnötigt. Aufs Ganze gesehen macht sich freilich bei dieser Reise ins Innere des „leidenden Gottes” eine gewisse Spannungs- und Sprachlosigkeit, ja neue Milde breit, als habe Rihm sich aus allzu großer Zurückhaltung dem Stoff gegenüber eine zupackendere Gestaltung versagt.
Gubaidulinas „Johannes-Passion” beginnt und endet mit einer hymnischen Überhöhung – nicht, wie zu erwarten wäre, der Auferstehung, sondern der Vertonung der ersten Verse des Johannes-Evangeliums „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott...”. Orgelcluster, Röhrenglocken und Chorjubel verkünden den logos spermatikos, die Lehre von der Göttlichkeit der Schrift. Ob dies Gubaidulinas letztes ‚Wort’ bleiben wird, muss sich erst noch erweisen, da das Werk – so die Komponistin – um einen letzten Satz erweitert werden soll. Die Uraufführung war, trotz des zeitweiligen Ausfalls des elektronischen Zuspielbandes, ein triumphaler Erfolg für Werk und Komponistin. Valery Gergiev hielt mit geradezu besessener Energie das riesige Aufgebot des Petersburger Mariinsky-Theaters zusammen, aus dem der Bassist Genady Bezzubenkov herausragte.
Insgesamt war das Wagnis, das die Bachakademie mit den vier Auftragskompositionen einging, ein voller Erfolg – übrigens auch beim Publikum der stets ausverkauften Stuttgarter Liederhalle. Bachs Passionen dominieren die Gattung auf eine Weise, dass jeder gelungenen, ja selbst auch den nur respektheischenden Vertonungen der biblischen Passion höchste Aufmerksamkeit zukommt. Im Vergleich mit Gubaidulinas „Johannes-Passion” verblasst Pendereckis einstiger Welterfolg der „Lukas-Passion”, und selbst die in ihrer musikalischen Askese faszinierende „Johannes-Passion” von Arvo Pärt.