Neue Musik auf CDs von Sofia Gubaidulina, Mark Andre, Klaus Huber, Edison Denisov und Josef Tal
Die Variationen von Josef Tal (1910–2008) über „Cum mortuis in lingua mortua“ aus Mussorgskijs „Bildern einer Ausstellung“ sind große Klaviermusik. Geschrieben 1945, sind sie ein früher und mutiger Versuch, die Schrecken des Holocaust in Töne zu fassen – ausdrucksstark, dissonant und durchzogen von tonalen Erinnerungen an die Zeit davor. Dass Tals Musik auch im Alter nichts von ihrer Intensität verloren hat, zeigt der späte „Essay II“ von 1988. Zur Werkauswahl auf dieser CD mit Klaviermusik aus Israel gehören auch die enigmatische, pianistisch herausfordernde Sonate „Epitaph“ von Tzvi Avni sowie drei Bildimpressionen und eine klangsinnliche „Salome“-Fantasie im Post-Ravel-Stil von Gil Shohat. Heidrun Holtmann zieht alle Register ihrer pianistischen Kunst. (Neos 11025)
Vier späte Ensemblewerke des 1996 verstorbenen, Frankreich-affinen Russen Edison Denisov hat das Ensemble Orchestral Contemporain unter Daniel Kawka veröffentlicht: zwei Kammersinfonien und zwei orchestrale Liederzyklen mit der Sopranistin Brigitte Peyré, „Au plus haut des cieux“ (Im höchsten der Himmel) nach Texten von Georges Bataille, die mit der Musik Denisovs doppelt betroffen machen, und die lyrischen „Fünf Romanzen von Anna Achmatowa“. Die beiden Kammersinfonien klingen wie instrumentale Kommentare zu den Textkompositionen, mystisch-verhangen mit ihren subtilen Farbmischungen die erste, hoch dramatisch und von existenzieller Angst erfüllt die zweite. Eine Musik, die unter die Haut geht. (Harmonia Mundi HMC 905 268)
Die Figur der 1943 jung verstorbenen Simone Weil, politisch engagierte Philosophin und zum Christentum konvertierte Jüdin, hat vor Jahren schon Klaus Huber musikalisch inspiriert, und nun hat ihr Kaija Saariaho mit dem Oratorium „La passion de Simone“ ein berührendes Denkmal gesetzt. Das Libretto stammt von Amin Maalouf, an der Konzeption des Werks war Peter Sellers beteiligt. In fünfzehn Stationen wird das aufopfernde, auf Spiritualität ausgerichtete Leben der kämpferischen Frau evoziert. Die zwischen Geheimnis und genauer Reflexion, lyrischer Verinnerlichung und dramatischem Ausbruch angesiedelte Musik ist von großer Eindringlichkeit, der weich timbrierte Sopran von Dawn Upshaw verbindet sich ideal mit dem farbenreichen Klang des Orchesters und Chors unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen. (Ondine ODE 1217-5)
Tief hinein in die Mikrostruktur des Klavierklangs mit Anschlag, Schallausbreitung und Nachhall dringt Mark Andre in seinen Werken für Klaviersolo und -duo, die Tomoko Hemmi und Yukiko Sugawara zusammen einge-spielt haben. Vor allem den Ausklang untersucht Andre, der hier in den Fußstapfen seines Lehrers Lachenmann wandelt, mit mikroskopischer Genauigkeit. Folgt man dem Begleittext, sind die sechs Stücke voll unhörbarer konstruktiver Feinheiten. Doch was man hört, ist immer noch faszinierend genug. Die Musik ist hochgradig gestisch und beeindruckt durch ihren Reichtum an Klangfarben und unterschiedlichen Zeitverläufen. (Wergo 6783 2)
Weniger analytisch zerteilend, aber ebenso eindrucksvoll sind die Instrumentalstudien für Kontrabass von Sofia Gubaidulina mit dem exzellenten Daniele Roccato. Sie sind über einen Zeitraum von über vierzig Jahren entstanden und teils Neuversionen von Werken für Cello. Der sonore Instrumentalklang wird nach allen Richtungen bis zum Geräusch ausgelotet, wobei ein organischer Sprechduktus stets gewahrt bleibt. Im Duett mit Bay-an münden ineinander verschlungene Ostinati in ein dramatisches Geschehen, die neun Préludes von 2009 bilden einen Mikrokosmos von Ausdrucksges-ten und Strukturmodellen auf der Basis reduzierter Materialien. Die theatralische „Pantomime“ für Kontrabass und Klavier (1966), nach Roccato die Geburtsstunde des zeitgenössischen Kontrabassrepertoires, führt das Instrument in ätherische Sopranlagen. (Wergo 6760 2)