Hauptrubrik
Banner Full-Size

Drängende Wucht

Untertitel
Gustav Mahlers Werke in neuen CD-Ausgaben
Publikationsdatum
Body

Diese und ähnliche Fragestellungen mögen im Umkreis aller musikbetrieblichen Aktivitäten mehr als bekannt und ausdiskutiert anmuten, aber sie gewinnen eine neue Dimension von Brisanz, wenn man sich vor Augen und Ohren hält, mit welchem Fleiß die Schallplattenindustrie gegen Ende des 20. Jahrhunderts immer wieder neue Darstellungsvarianten längst vertrauten Repertoires auf den Markt wirft. Ist es denn tatsächlich möglich, etwa einem Dutzend von Ausgaben der Mahler’schen Fünften vier sozusagen neue Les- und Spielarten zur Seite zu stellen?

Alles das, was der leidlich gebildete, in dringlichen Form- und Ausdrucksfragen unterrichtete Hörer in den weiten Aktionsradius musikfreundschaftlicher Beschäftigung mit einbezieht, konzentriert sich mangels tiefreichender Kenntnisse im akuten, also im rückversichernden Interpretationsvergleich. Im Fall der Gegenüberstellung von aufführungspraktischen und auffassungsästhetischen Vorgaben instrumentaler und vokaler Entscheidungen fungieren die verschiedenen Varianten heute gebräuchlicher Tonträger als praktische Informationsquelle, aber auch als Erinnerungsstütze. Diese und ähnliche Fragestellungen mögen im Umkreis aller musikbetrieblichen Aktivitäten mehr als bekannt und ausdiskutiert anmuten, aber sie gewinnen eine neue Dimension von Brisanz, wenn man sich vor Augen und Ohren hält, mit welchem Fleiß die Schallplattenindustrie gegen Ende des 20. Jahrhunderts immer wieder neue Darstellungsvarianten längst vertrauten Repertoires auf den Markt wirft. Ist es denn tatsächlich möglich, etwa einem Dutzend von Ausgaben der Mahler’schen Fünften vier sozusagen neue Les- und Spielarten zur Seite zu stellen? class="bild">Gustav Mahler mit seiner Tochter Anna in Toblach 1907

Und ist es denkbar, dass auch nur ein kleiner Prozentsatz von Partitur-kundigen, also von gelernten Hörern, die kleineren Auffassungsdifferenzen, die liebevoll ausgekundschafteten Binnenalternativen eines langwierigen Wiedergabeprozesses herauszudestillieren und schließlich auch zu würdigen vermag?

In dieser Hinsicht dürften die neuen Mahler-Aufnahmen der Dirigenten Pierre Boulez, Riccardo Chailly, Kent Nagano und Simon Rattle bei der Mehrheit des Publikums einen höheren Innovationsindex erzielen als jene etwa von Otmar Suitner, Daniel Barenboim oder Armin Jordan. Das allgemeine Persönlichkeitsprofil, das Erscheinungsbild der betreffenden Künstler reguliert ganz zwangsläufig die Erwartungshaltungen, was die neuen Tonträgerangebote anbelangt. Und vorgeprägt sind sie selbstverständlich auch von der Aufnahme-, Klang- und Wiedergabequalität ihrer bereits bekannten Einspielungen. Die Einspielung der Auferstehungssinfonie mit dem Orchestre de la Suisse Romande unter der Leitung von Armin Jordan ist in ihrer mehr indirekten Themen- und Gestaltausleuchtung, in ihrer verschleierten Raumaufteilung ein bedauerliches Beispiel für die Missachtung von perspektivisch-akustischen Grunderfordernissen. Selbst wenn Armin Jordan sich in seinen charakterisierenden Entscheidungen explosiver, unmissverständlicher gegeben hätte, wären unter diesen Aufnahmebedingungen ein großer Teil der dramatischen und lyrischen Spitzenwerte verloren gegangen. Nur unwiderstehliche, gewissermaßen transzendentale Intensität vermag auf Schallplatten ungenügende Aufnahmereglements vergessen machen. So bleiben auch die musikgeschichtlich interessanten Einspielungen der Wiener Symphoniker unter dem mutigen Mahler-Apologeten Charles Adler eine Angelegenheit für den recherchierenden Fachmann. Zu flach, zu verfärbt und verschlissen wirken die Mahler’schen Typen inszeniert, zu abgeplattet die großen dynamischen Steigerungen, zu verniedlicht die explosiven und martialischen Inventionen etwa im Verlauf der Sechsten, deren volle, drängende, sehrende Wucht und deren kreatürliche Naivitäten in der älteren Solti-Version mit dem Chicago Symphony Orchestra unter Georg Solti so unübertroffen ausgereizt sind (Decca).

Die bei Armin Jordan beklagte Indifferenz der musikalischen Zeichnung und des aufnahmetechnischen Bemühens ist auch für eine Fünfte mit der Berliner Staatskapelle unter Otmar Suitner charakteristisch. Matte Konturen, ein weiches Klangbett als grundierende Unterlage bilden mit einer schwammigen Orchestrierung eine unglückliche Allianz, die im berühmten Adagietto in geradezu schmierigen Verlaufskurven gipfelt, als habe Suitner hier nicht – wie Visconti – an den Tod in Venedig, sondern an Jarres Dr. Schiwago-Klänge gedacht. Die Fünfte ist begreiflicherweise ein Hauptanliegen der Schallplattenfirmen, wobei es sich selbst kleinere Label wie Conifer zutrauen, ihren dirigentischen Nachwuchs mit diesen fünf ebenso heiklen wie dankbaren Sätzen ins mediale Rennen zu schicken. Der junge italienische Dirigent Daniele Gatti ist es, der mit dem Londoner Royal Philharmonic Orchestra eine sehr plastische, in den Kontrastwirkungen mutige, sehr vibrationsreiche und im angesprochenen Adagietto keineswegs larmoyante Deutung offeriert. Spannungsvoller, in den Verknüpfungen und atmosphärischen Wechselwirkungen des thematischen Für und Gegen überzeugender als die Live-Version Daniel Barenboims mit dem Chicago Symphony Orchestra. Der Trompetenbeginn wirkt hier etwas verwackelt, aber man möchte das nur als ein Indiz dafür nehmen, dass manche der weltweit gefeierten Interpreten die großen Werke gleichsam im Vorübergehen mitnehmen. In dieser Hinsicht erweisen sich Pierre Boulez und Riccardo Chailly einmal mehr als Proponenten einer ganz individuell verstandenen Verantwortung, nämlich in dieser Fünften die vom Komponisten geforderten Qualitäten von Strenge, Vehemenz und herbstlicher Elegie in ihrer Urtümlichkeit auszuformen. Chailly verfolgt diese Strategie mit einem klangerlesen und dennoch kantig operierenden Royal Concertgebouw Orchestra, Pierre Boulez um eine Spur weicher, gefederter mit den Wiener Philharmonikern, wobei man getrost von einer Art Altersstil des Dirigenten sprechen darf, sofern man seine früheren, gereizteren Mahler-Aufnahmen (CBS) noch im Ohr hat.

Nicht nur die werkstrukturellen Eigenheiten und die von Mahler überlieferten Handlungen und Philosophien müssen für den Interpreten leitgebend sein, sondern auch jene natürlichen und lebensbildenden Kräfte, die für die Entwicklung des Komponisten und für die Herausbildung seiner – auch beruflichen – Weltanschauung leitgebend gewesen sind: die Landschaft Böhmens, die besondere Situation der jüdischen Bürger in einer zunehmend rassistischen Gesellschaft, der Kampf um handwerkliche und künstlerische Ideale an den verschiedenen Bühnen der Alten und Neuen Welt, die Abgeschiedenheit und Monumentalität der alpenländischen Gebirgswelt, die wechselnden Herzensangelegenheiten, die Wiener Intrigen und der tiefe Schmerz über den Verlust der Tochter. Man wird dies in einer Interpretation nicht Punkt für Punkt dingfest machen können, aber man spürt es in den Wellen und Kompressionen des musikalischen Kommens, Gehens und Verweilens. Man spürt es in der Unbedingtheit, mit der etwa Simon Rattle und Esa-Pekka Salonen in ihren neuen Aufnahmen das Helle vom Dunklen trennen, das Weiche gegen das Harte setzen. Rattle ist auf dem Wege, nach vielen Jahren eine Gesamtaufnahme der Sinfonien vorzulegen. Er tut dies mit Umsicht und spürbarer Identifikation mit den gerade aktuellen Typen, wobei auch ein didaktisches Vorgehen zu bemerken ist. Zur ungemein sinnlich, bald strahlend, bald drohend mitternächtlich empfundenen Dritten wurden solche Wunderhorn-Lieder zugegeben, die in stimmungsmäßigem, zum Teil sogar in direktem motivischen Zusammenhang mit der Sinfonie stehen. Hier erweist sich der junge englische Bariton Simon Keenlyside als einer der wenigen jungen Sänger, die auf dem Feld der Mahler-Interpretation eine ähnlich entscheidende Rolle spielen könnten wie in den 50er-Jahren Dietrich Fischer-Dieskau.

Im Fall des Klagenden Lieds fällt es schwer, zwischen den Aufnahmen Rattles und Naganos – beide in der dreiteiligen Fassung! – zu wählen. Nagano verfügt über ein etwas unverbrauchteres Vokalistenquartett und zeichnet die musikalischen Vorgänge um eine Spur noch agiler als Rattle. Ausschlaggebend aber könnte für den Erwerb dieser Version auch sein, dass im Begleitheft ein wirklich erschöpfend aufschlussreicher Text von Herta Blaukopf über die Entstehungsgeschichte des Werkes abgedruckt worden ist.

Diskografie

Sinfonie Nr. 2; Silke Kaiser (Sopran), Cornelia Kalisch (Mezzosopran); Choeur „Le Motet“ de Genève Choeurs du Grand Théatre de Genève (Guillaume Tourniaire), Orchestre de la Suisse Romande; Leitung: Armin Jordan; Mediaphon 72.169 (2 CD)

Sinfonien Nr. 3, 6 und 10 (Edition Krenek); Wiener Symphoniker; Leitung: Charles Adler; Conifer/BMG 75605 51279 2 (3 CD)

Sinfonie Nr. 3; Anna Larsson (Alt); Women of the Los Angeles Master Chorale, The Paulist Boy Choristers of California, Los Angeles Philharmonic; Leitung: Esa-Pekka Salonen; Sony S2K 60250 (2 CD)

Sinfonie Nr. 3; 8 Lieder aus „Des Knaben Wunderhorn“; Birgit Remmert (Alt), Simon Keenlyside (Bariton); City of Birmingham Symphony Youth Chorus, Ladies of the City of Birmingham Symphony Chorus, City of Birmingham Symphony Orchestra; Leitung: Sir Simon Rattle; EMI 556657 2 (2 CD)

Sinfonie Nr. 4; Amanda Roocroft (Sopran); City of Birmingham Symphony Orchestra; Leitung: Sir Simon Rattle; EMI 5 5656 3

Sinfonie Nr.5; Staatskapelle Berlin; Leitung: Otmar Suitner; Berlin Classics 0093411 BC

Sinfonie Nr. 5; Chicago Symphony Orchestra; Leitung: Daniel Barenboim; Teldec 3984-23328-2

Sinfonie Nr. 5; Royal Philharmonic Orchestra; Leitung: Daniele Gatti; Conifer/BMG 75605 51318 2

Sinfonie Nr. 5, Wiener Philharmoniker; Leitung: Pierre Boulez; DG 453 416-2

Sinfonie Nr.5; Royal Concertgebouw Orchestra; Leitung: Riccardo Chailly; Decca 458 860-2

Sinfonie Nr. 9 (+ Strauss, Metamorphosen); Wiener Philharmoniker; Leitung: Sir Simon Rattle; EMI 5 56580 (2 CD)

Das klagende Lied; Helena Döse (Sopran), Alfreda Hodgson (Mezzosopran), Robert Tear (Tenor), Sean Rea (Bariton); City of Birmingham Symphony Chorus and Orchestra; Leitung: Sir Simon Rattle; EMI 5 66406 2

Das klagende Lied (dreiteilige Original-fassung); Eva Urbanová (Sopran), Jadwiga Rappé (Alt), Hans Peter Blochwitz (Tenor), Hákan Hagegard (Bariton); Terence Wey, Otto Jaus (Solisten der Wiener Sängerknaben); Hallé Orchestra and Choir; Leitung: Kent Nagano; Erato 3984-21664-2

Alma Mahler-Werfel: Lieder (Gesamtaufnahme); Zemlinsky: Lieder op. 7; Ruth Ziesak (Sopran), Iris Vermillion (Mezzosopran), Christian Elsner (Tenor), Cord Garben (Klavier); cpo 999 455-2

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!