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Mit 17 ein Genie – was macht man dann den Rest des Lebens? Foto: unbekannt
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Drei Jahre üben waren genug

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Erste Aufnahmen des 17-jährigen Friedrich Gulda bei Decca
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Die Phonoindustrie, Abteilung Klassik, schrumpft sich gesund. Wozu alles zum x-ten mal neu aufnehmen? Beethoven, Bach, Brahms – lagert das nicht alles in hochwertigen Aufnahmen im Keller? Es stellt sich nur noch die Frage, wie man Altes am wirkungsvollsten neu vermarktet. Die Moderne des 20. Jahrhunderts verschaffte der Schallplattenindustrie zudem eine anspruchsvolle und notwendige Aufgabe als Vermittler. Und bei all dem Stöbern in alten Plattenschränken und Master-Bänder-Regalen kann geschehen, wovon der folgende Artikel handelt. Ein enagagierter Product Manager entdeckte verloren gegangene Schätze. „Friedrich Gulda – The First Recordings“ werden Anfang Mai bei Decca erscheinen. Es ist ein Album mit bisher auf LP und CD unveröffentlichten Aufnahmen des genialen Beethoven-, Bach- und Mozartinterpreten aus den Jahren 1947 bis 1949.

Pünktlich zum 75. Geburtstag Friedrich Guldas (16. Mai 1930 – 27. Januar 2000) nun also Aufnahmen des Frühvollendeten für die Decca, die noch vor seiner ersten Einspielung aller Beethoven-Klaviersonaten zwischen 1949 und 1958 entstanden. Die First Recordings bieten die einzigartige Möglichkeit, den damals Siebzehnjährigen mit einem für ihn typischen Programm zu hören: J.S. Bach mit „Präludium und Fuge G-Dur BWV 860“, zwei Menuette sowie die Fuge aus „Toccata und Fuge in c-MolI“. Von Beethoven nahm Gulda die „Bagatelle B-Dur op. 119, Nr.11“ und „Sechs Ecossaisen Es-Dur WoO 83“ auf. Es folgen von Frédéric Chopin die „Berceuse Des-Dur“, die Etüden „As-Dur“ und „f-Moll“ sowie die „Ballade Nr. 3, As-Dur“.

Einzigartig ist die Aufnahme von Sergej Prokofieffs „Klaviersonate Nr. 7 B-Dur op. 83“. Es existiert keine weitere Prokofieff-Einspielung Guldas, obwohl er dessen Werke in den ersten Jahren seiner Karriere häufig spielte, später dagegen nicht mehr. Zeit seines Lebens dagegen begleiteten ihn die Werke Debussys und Mozarts. Das First-Recordings-Album enthält auch Debussys „L’isle joyeuse“ und „Reflets dans l’eau“ sowie die „Klaviersonate D-Dur“ von Wolfgang Amadeus Mozart.

Auf The First Recordings spielt Gulda Teile seiner Programme, wie er sie bei zahlreichen Konzerttourneen durch die Schweiz, Österreich, Tschechoslowakei, Ungarn, Luxemburg, Italien und auch durch Deutschland gestaltete. Noch war er nicht zu den legendären Südamerikatourneen aufgebrochen, die seinen Weltruhm be- gründeten.

Auch wenn der Pianist damals gerade 17 Jahre jung war, alles auf dieser CD klingt nach Gulda. Alles ist schon da: seine unnachahmliche rhythmische Präzision, seine packende Verve, kombiniert mit delikatestem Anschlag und feinsten Nuancierungen. Er spielt die Komponisten, die er Zeit seines Lebens hauptsächlich spielte: Bach, Mozart, Beethoven, auch Debussy. Dass die Prokofieff-Sonate Nr. 7 mit dabei ist, scheint dennoch passend. Erinnert sie doch in ihren Ostinati und dem etwas stereotypen Klang an den Dualismus Klassik-Jazz, oder Klassik-Techno, in Guldas Leben. Seine eigenen Werke, insbesondere die jazzigen Fingerfertigkeiten „Play, Piano, Play“ kommen einem bei diesem Prokofieff in den Sinn. Die Moderne, der Gulda – für den Harmonie, Melodie und Rhythmus als die zentralen Parameter jeglicher ernst zu nehmender Musik notwendig erschienen – skeptisch gegenüberstand, ersetzte er in seinen Programmen durch seine eigenen Kom-positionen. Und zwar ohne jede Angst, sich dadurch zu kompromittieren, wie dies eine Generation früher etwa ein Artur Schnabel fürchtete, der Eigenes niemals selbst aufführte.

Ohne hier auf Tempi oder Verzierungen im Einzelnen eingehen zu wollen: Hört man Guldas Aufnahme der Mozart-Klaviersonate D-Dur, KV 576 von Anfang Dezember 1948 und vergleicht sie mit der Einspielung für die Deutsche Grammophon im Jahr 1990, dann sind Unterschiede bestenfalls im Detail hörbar. Gulda ist sich in diesen vier Jahrzehnten treu geblieben.

Dem Pianisten wird der Satz zugeschrieben, er habe eigentlich „nur zwischen seinem 13. und 16. Lebensjahr geübt“. Dass er mit 17 vollendet war, belegen jedenfalls diese Aufnahmen aus den Londoner Decca-Studios. Diese Frühvollendung mag auch als Erklärung für viele von Guldas Eskapaden und „Verrücktheiten“ dienen. Einer, der mit 17 alles kann, der braucht künstlerische Ventile, der muss sich paradoxerweise über sein geniales Klavierspiel hinaus kreativ betätigen.

Am Beispiel von Guldas First Recordings lässt sich erahnen, dass Schätze in den Archiven der Schallplattenfirmen schlummern. Doch so leicht sind diese Schätze nicht zu heben. Oft fehlen die Experten, die sich überhaupt noch auskennen im großen Bestand der Preziosen.

Die First Recordings entdeckte Product Manager Oliver Wazola im Plattenschrank von Guldas Nachlassverwalterin Ursula Anders – Guldas zweiter Sohn, Paul Gulda, hatte sie ihr fürs Archiv zur Verfügung gestellt. Bevor man aber irgendetwas anhören konnte, waren die Tontechniker gefragt – und zwar welche mit Erfahrung. Denn die vorliegenden Aufnahmen wurden zwar Ende der vierziger Jahre bereits auf Vinyl produziert, jedoch noch in der Größe von Schellackplatten. Sie mussten mit 78 Umdrehungen pro Minute abgespielt werden.

Wer konnte überhaupt noch mit dieser Technologie umgehen? Durch jedes Abspielen veränderte sich die Größe der Rille. Für eine neue, wenig gespielte Platte benötigte man eine kleine Nadel. War die Scheibe oft abgespielt, brauchte man eine dickere, um zu guten Ergebnissen zu kommen. Bob Jones, der ehemalige Decca-Chef-Remasterer, musste für diese spezielle Herausforderung reaktiviert werden. Dann setzte sich noch ein zweiter Spezialist, Willem Makkee, der in den Emil Berliner Studios unter anderem die Edition „Swinging Ballroom Berlin“ remastered hatte, mit Friedrich Guldas ersten Einspielungen auseinander.

Die Ergebnisse zeigen, es hat sich gelohnt: First Recordings vermitteln dem Hörer den Eindruck, als sei der 17-jährige Friedrich Gulda erst gestern im Aufnahmestudio gewesen.

Auswahldiskografie: Friedrich Gulda

• Decca Beethoven Recordings 1950 -1958, L.v. Beethoven, 32 Klaviersonaten, Violinsonaten Nr. 7 & Nr. 10. Klavierkonzert Nr. 1 in C-Dur, 15 Variationen & Fuge in Es-Dur op. 35 „Eroica“, Bagatellen op. 126/ 2 & 3, Friedrich Gulda, Klavier, Ruggiero Ricci, Violine, Wiener Philharmoniker, Karl Böhm
Decca 11-CD 475 6835
• W.A. Mozart: Klavierkonzerte Nr. 20, 21, 25 und 27
DG 2-CD 4158422
• Friedrich Gulda – The First Recordings: J.S. Bach, L.v. Beethoven, F. Chopin, S. Prokofieff, C. Debussy und W.A. Mozart
Decca 476 3045
• J.S. Bach: Das Wohltemperierte Klavier Bd. 1 und 2
Philips 2 CD 4465452
Philips 2 CD 4465482
• Gulda spielt...
Wiederentdeckte Sensationsaufnahmen der Sechziger Jahre
Bach, Mozart, Schubert, Chopin, Mozart
Decca 476 3007
• The Complete Musician
Amadeo 3 CD 4728322
•Friedrich Gulda „Midlife Harvest“
Universal MPS 5-CD 06024 98 28945

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