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Experimentierfreudige Begegnungen

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Jazzneuheiten, vorgestellt von Hans-Dieter Grünefeld
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Sich anderen Musikkulturen anzunähern, sie gar zu assimilieren, war seit je eine genuine Eigenschaft des Jazz. Umgekehrt haben Musiker außerhalb der geographischen Jazz-Domänen sich dessen Stilistik und Idiomatik zur Erkundung neuer Perspektiven ihrer Traditionen angeeignet.

So wird klassisches Repertoire durch eine „Metamorphosis“ (Winter & Winter 910 224-2, Edel) geschickt, um darin versteckte oder von außen projizierte Facetten kenntlich zu machen. Das spätromantische Aroma der „Songs My Mother Taught Me“ (nach Charles Ives) wurde von dem Vokalisten Theo Bleckmann mit seinem Ensemble Kneebody für den Jazz- und Elektrostil seiner Gegenwart gefiltert, sodass sich deren Wahrnehmungswinkel durch das Arrangement und seinen Gesang verändert. Auf hypertones Jazzrock-Pathos hat das Uri Caine Ensemble „Othello’s Victory“ (nach Giuseppe Verdi) getrimmt, und Verdis „Big Sleep“ (nach der Messe) hat Gato Loco zu iberischem Temperament transformiert. Diese und andere Klassik-Adaptionen von Fumio Yasuda und Barbara Sukowa & The X-Patsys geben auf genannter Kompilation eine erste Orientierung dieser Methode stilistischer Begegnungen.

Solchen „Flow“ avisiert auch ein scheinbar disparates Duo mit dem Programm „Jazz und Renaissance – from Italy to Brazil“ (Oehms Classics 1826, Naxos), indem Axel Wolf (Laute & Theorbe/Basslaute) und Hugo Siegmeth (Tenor- & Sopransax, Bassklarinette) historisches Lamento in „Flow My Tears“ von John Dowland durch rauchige Saxtimbres und sanfte Arpeggios interpretieren, andersrum das berühmte „Girl von Ipanema“ elegant paraphrasieren oder die „Ornithology“ von Charlie Parker in unorthodoxer Rollenverteilung mit improvisierender Laute in Bebop-Manier flattern lassen. Erstaunlich, dass diese so divergenten Traditionen ohne Bruchlinien zu einem integralen Sound gefügt werden.

Verinnerlichte klassische Ausbildung und Berufspraxis dienen Arkady Shilkloper und Vadim Neselovskyi dazu, sich die Freiheit zu nehmen, unerforschtes Klangterrain zu erkunden. Fragende Horn-Motive und quirlige Klavierimprovisationen leiten sie zum Quasi-Bebop des „Spring Song“, während „Krai“ (Neuklang 4109, Edel) Imaginationen einer schroffen Landschaft in russischer Emotionalität evoziert. Swingend gehen sie dann zum „Alpine Sketch“, um von dort Resonanzen weiterer Gebirge und Ebenen wie ein dialogisches Klangrelief zu gestalten. Aus diesen Songs quillt Sehnsucht nach Seelenfrieden und existenzieller Balance in kontrollierten Extempores.

Im Kontrast dazu ist die „String Theory“ (Whirlwind 4671, Indigo) des britischen Trios Partikel (Duncan Eagles: Saxophone, Max Luthert: Bass und Eric Ford: Drums) das ambitionierte Projekt, ein Streichquartett in das Spektrum von Jazzrock und Worldmusic einzubinden. Das gelingt insofern, dass zwar in der Suite „Clash of the Clans“ die beiden Sektionen aufeinander prallen, doch so, dass die Streicher nicht nur additives Dekor im thematischen Rahmen sind, sondern die heftigen Hardbop-Motive in rhythmischen Verwinkelungen füllen. Besser noch im Part III, wenn Tabla-Swing und Pizzicati ein metrisches Mäander spinnen, in das sich das Trio durch komplexe Kontrapunktik einmischt. Da bleibt nichts von vielleicht zu erwartender klassischer Zurückhaltung im Streichquartett, sondern es entstehen vehemente Interaktionen, die dem Jazz-Impetus dieser Formation grandiosen Effet geben. Die hier genannten Begegnungen erweitern also den Radius des Jazz zum undogmatischen Laboratorium aufregender Klänge von experimentierfreudigen Freigeistern.

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