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Exponierte Einzelgänger

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Jazzneuheiten, vorgestellt von Hans-Dieter Grünefeld
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Solisten sind per se exponiert, erst recht, wenn sie als Einzelgänger ein im Jazz rares Instrument verwenden. Wie Toots Thielemans, der als Harmonikaspieler 1987 in seiner Geburtsstadt Brüssel „Ne me quitte pas“ und seine US-Band (Fred Hersch, p; Marc Johnson, b; Joey Baron, dr) vorstellte. Dieses sensationelle Konzert, eine diskographische Rarität, ist nun, ein Jahr nach Toots Thielemans’ Tod, wieder veröffentlicht worden: Der Titelsong, eine empfindsame Ballade von Jacques Brel, wird emotional sublim durch Thielemans’ Metallzungenstimme ausgelotet, während das Quartett, dessen phantastisches Einverständnis auch die anderen Standards des Programms formt, „Blue ’N Green“ von Miles Davis koloris­tisch und dynamisch richtig aufdreht. (Milan/Warner)

Solche inspirierten Interaktionen sind auch bei zwei sehr erfahrenen „Masters In Bordeaux“ live (inklusive Gläserklirren) zu hören: Wenn nämlich Pianist Martial Solal und Saxophonist Dave Liebman mit analytischem Scharfsinn fragmentierte Motive etwa des Musicalhits „All The Tings You Are“ als raffinierte Dialoge kommunizieren, indem chromatisch-kantige Impulse und Akkordandeutungen am Klavier zur lockeren Halterung für sax-geknetete Melodik werden. So enstehen Neugestaltungen bekannter Songs wie „Night And Day“ oder „On Green Dolphin Street“ durch geradezu fabelhafte harmonische Extravaganzen. Hier sind unabhängige Persönlichkeiten erkennbar, die im Duo einen Konsens gefunden haben. (Sunnyside/GoodToGo)

In diesem erweiterten Sinn ist auch Gebhard Ullmann ein Einzelgänger, denn sein Clarinet Trio funktioniert „Live in Moskau“ wie eine Zentrifuge, das scheinbar freie „Variationen über Rauch und Moder“ durch kontrollierte musikalische Drehbewegungen und Groove zu einem Modern-Jazz-Riff bindet. Diese Methode erlaubt „Dreierlei“-Motive als komplexes Improvisationsgewebe oder, in Partnerschaft mit dem russischen Altsaxophonisten Alexey Kruglov, „Kleine Figuren“ wie einen trägen Blues mit ironischem Hinweis aufs fin de siècle darzustellen. Fünfzehn Jahre gemeinsame Erfahrungen verdichten sich in diesen Aufnahmen zu stets überraschenden Plots. (Leo)

Andere Facetten haben Klangabenteuer beim Gitarristen Benedikt Reidenbach, denn seine Musik bewegt sich im traditionell tonalen Bereich. Aber er kombiniert sowohl verschiedene Genres wie Folklore im „Windgleiter“-Lied mit Arpeggio-Fluidum, irische Einflüsse bei „The Star of the Country Down“ oder Country & Western Entlehnungen im „Schattenwalzer“, als auch Gitarrentypen. Alternierende Timbres, unprätentiöse souveräne Spieltechnik und Gäste wie die Pianistin und Sängerin Olivia Trummer geben seinem Debütalbum „Eins“ eine originelle Signatur. (Contemplate/Cargo)

Im Vergleich zu den Vorgenannten ist Stephan Micus geradezu ein Eremit, genauer: Einzelgänger im strikten Wortsinn. Er reist als Multi-Instrumentalist über einen „Inland Sea“ ohne feste Horizonte. Als Komponist und Interpret seiner selbst manövriert er als kontemplativer Kapitän, sein Fahrzeug mit arpeggierten Ostinati der norwegischen Nyckelharfe und klagenden Multiphonics der Laute Balanzikom antreibend, durch „Haze“ (Nebel) oder in polyphoner Schärfe auf die „Dawn“ (Morgendämmerung) zu. Abgedriftete Kombinationen wie Bass-Zither und Shaku­hachi-Flöte und andere unorthodoxe Instrumente bestimmen den Kurs stiller Betrachtungen, die wie aus dem Nichts konturiert werden: betörende Trips zu einer musikalischen terra incognita. (ECM/Universal) 

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