Scheinbar seit Jahrhunderten ziehen Bon Jovi ihre Kreise im – salopp formuliert – wegsterbenden Friseusenrock. Doch wir wollen nicht ungerecht sein. Wer in den Achtzigerjahren nicht mit der Faschingspistole zu „Wanted dead or alive“ vor dem Spiegel hantiert hat, der werfe den ersten Stein. Nun, die Band um Namensgeber Jon kommt in die Jahre. Zwar veröffentlicht man noch Alben, doch die „Best of“- oder „Greatest Hits“-Ausgaben werden nicht weniger. Also gibt es Ende des Jahrzehnts eine Werkschau. Als schnöde CD mit 16 Songs, als „Ultimate collection“ mit 16 Songs plus Zusatz-CD und als DVD mit zusätzlichen Videos. Sinnig? Vielleicht. Sinnlos? Sicher nicht. Hörhinweis: alles irgendwie.
Man mag über Christina Stürmer als Kind der österreichisch-deutschen Neopopwelle mit Muttersprachenbekenntnis die Nase rümpfen. Weil zu glatt, überproduziert oder im Deutschpop-Strudel untergehend. Eines muss man ihr aber lassen: von allen Deutschsingern hat sie schlicht die besten Songs. „Nahaufnahme“ bietet radiokonformen Tiefgang, meidet – so weit möglich in diesem Genre – den Seichtismus und verleitet selbst den größten Ablehner dazu, sekundenweise anerkennend mitzunicken. „Nahaufnahme“ ist erkennbar Christina Stürmer. Das muss man dann eben auch einmal honorieren, dass sich da eine junge – freilich erfahrene – Künstlerin einen Wiedererkennungswert erarbeitet hat. Kann man nicht von allen Mitbewerbern behaupten. Und: Spaß können desgleichen Erwachsene mit „Nahaufnahme“ haben. Man sollte sich trauen. Hörhinweis: Wir leben den Moment, Zeitlupe, Die beste Zeit.
George Leitenberger ist für den November 2010 wohl das kompletteste Paket Musik, das sich für Geld erwerben lässt. Es ist eine Kunst wie er als Sänger und Songwriter Stille, Harmonie, Einzigartigkeit, Sarkasmus, Humor, Nachdenklichkeit, Zeitgemäßheit, Ungeniertheit oder Wahrheit präsentiert. In seinem „Cafe Comercial“ verdichtet und vernetzt sich diese Themenwelt mit textlicher Dreisprachigkeit (deutsch, französisch, englisch), musikalischer Gewandtheit (orientale Chansons treffen europäische Weltbürgerlichkeit) und einer angenehmen Distanz zum Hörer. Er will uns nichts aufdrängen. Nur anschubsen. Dass man ab und zu an Leonard Cohen oder Dylan erinnert wird, ist kaum der Rede wert. Leitenberger ist ja kein Nachmacher. Ein Anlehner vielleicht. Das aber sehr famos. Hörhinweis: Alle sehen zu, Voix du Sud, Sugar Cane Train.
Benny Goodman wird 100 und Klarinettist wie Grammypreisträger Paquito D’Rivera spielt uns den Swing. „Benny Goodman Revisited“ ist ein wunderbar offener Live-Mittschnitt, der weder Benny Goodmans Werk noch Paquito D’Riveras Kunst in den Vordergrund spielt. Paquito D’Rivera, längst als schwindelfreier Grenzgänger bekannt, hat sich bei „Benny Goodman Revisited“ zusammen mit der WDR Big Band für eine extrem lässige wie jazzige Interpretation von Goodman entschieden. Musste ja funktionieren. Scheitern war da wirklich nicht vorgesehen. Hörhinweis: alles.
Etwas abseits, vielleicht symbolisch gen Schluss soll das neue Album der Kings of Leon erwähnt werden. Warum? Weil es grandios ist. So grandios, dass nur platteste Plattitüden beschreiben können, was auf „Come Around Sundown“ abgeht. Es ist melancholisch, traurig, nervenzerfetzend, aufreibend, willig, mondän, intim, exaltiert, pointiert und sicher extrem engagiert. Diese Jungs leben ihre Musik. Song für Song. Note für Note. Jahr für Jahr. Und diesen unbändigen Lebenswillen nicht an die große Glocke zu hängen, sondern im Understatement auszubaden (z.B. „The End“), ist das große Verdienst dieser Platte, ist die Einmaligkeit dieser Band und ist wahrscheinlich bald ihr Schicksal. Man sollte diese Erde nicht verlassen, ohne ein Album dieser Band gehört zu haben. Warum nicht mit „Come Around Sundown“ beginnen. Das Leben ist kurz. Hörhinweis: The End, Mary, Mi Amigo, Birthday.
Diskografie
Bon Jovi – Greatest Hits (29.09.2010, Universal)
Christina Stürmer – Nahaufnahme (24.09.2010, Universal)
George Leitenberger – Cafe comercial (15.10.2010, Broken Silence)
Paquito D’Rivera – Benny Goodman Revisited (08.10.2010, Connector Records)
Kings of Leon – Come Around Sundown (15.10.2010, RCA)