Begeistert von der hochrangigen Interpretation der geistlichen Chorwerke und Messen Mozarts (siehe nmz 10/02 S. 20 und 5/03 S. 18) vertraute Pieter van Winkel, Klassikmusik-Chef von „Brilliant Classics“, Nicol Matt und seinem Chamber Choir of Europe eine Gesamteinspielung aller geistlichen Chorwerke Mendelssohn Bartholdys an – ohne „Elias“, „Paulus“ und das „Christus“-Fragment. Gar nicht sparsam ist die Ausstattung der Box: Jedes der zehn Kartonkuverts schmückt ein mehrfarbiges Bibel-Bildmotiv; die Kassette enthält auf 64 Seiten alle Texte und eine profunde und überraschend rezeptionskritische Einführung.
Mit rund zehn Stunden Spieldauer und einer dank der musikantischen Besessenheit der Interpreten hinreißenden Darstellung aller Stücke erfreut diese Gesamtaufnahme mit einer überwältigenden Fülle an Musik, welche die seelische Entwicklung eines frommen Geistes und die musikalische eines genialen Musikers in der Auseinandersetzung mit Musikgeschichte und Glaubensüberlieferung im Übergang zwischen Barock und Romantik als spannendes Erlebnis mitvollziehen lässt. Vieles ist auch für Kennerohren neu, einige Stücke kennt man fast nur mit Orgel- und nicht mit der originalen Orchesterbegleitung. Fünf CDs enthalten mit den Choral- und Psalmkantaten und den liturgischen Vertonungen die orchesterbegleiteten Chorwerke, die restlichen die A-Capella-Chöre. Das Niveau aller Sänger und des Orchesters ist gleichermaßen überragend und die Aufnahmetechnik schlicht großartig, vor allem die Akustik des Klosters Bronnbach im Taubertal überwältigend eingefangen – ich war bei einigen Aufnahmen dabei und empfand die strenge und unerbitltiche Genauigkeit des Leiters und die kritische Mitarbeit des Tonmeisters als erstaunlich, aber auch entscheidend für den hohen Rang der Interpretation.
Die rund 100 Werke zeigen, wie intensiv sich Mendelssohn mit religiös motivierten Kompositionen der Musikgeschichte befasst, ihre Struktur, ihren Sinngehalt, ihre liturgische Einordnung in eigene Werke übernommen und mit eigenen neuen Stilelementen verschmolzen hat. Das Spektrum reicht von Renaissance-Chorwerken bis zur geistlichen Musik Bachs, Händels, Haydns und Mozarts. Die eigenen Kompositionen zeigen die Früchte: Sperrig geriet das „Tu es Petrus“ (CD 4), in der Nachahmung venezianischer Mehrchörigkeit mit Nonen- und Septenreibungen für 16 Stimmen und Orchester gesetzt; ebenfalls haarsträubend schwierig das „Hora est“ (CD 6) für vier vierstimmige Chöre und Orgel – Nicol Matt und sein Tonmeister fanden dafür eine originelle Choraufstellung: Die vier Chöre stehen einander im Quadrat gegenüber, das Rundum-Mikrofon in der Mitte, was zu einer verblüffend klaren Durchsichtigkeit aller 16 Stimmen führt! Neben dem bekannten lateinischen „Te Deum à 8“ (CD 6) – im polyphonen Bach-Stil – lässt ein „Te Deum à 4“ (CD 6) mit deutschem Text ebenso aufmerken wie das lateinische „Ave Maria“ (CD 6) eines konvertierten Protestanten. Das d-Moll-Kyrie (CD 4) erinnert in seiner Dramatik an Mozarts Requiem. Die drei Psalmen op. 78 (CD 8) – hier nicht bedeutungsvoll überfrachtet, sondern sehr durchsichtig gestaltet – lassen Bruckners d-Moll-Messe vorausahnen. Klangfarbenprächtig der Vespergesang „Adspice Domine“ (CD 10) für Soli, Männerchor und zwei obligate Streichinstrumente (!), nämlich Cello und Kontrabass, ein ungemein schweres Stück; wie der „Trauergesang“ op. 116 (CD 10) ist dies eine Ersteinspielung. Das „Jube Domne“ (CD 9) mit seiner romantischen Grundstimmung schließt den Kreis der Vorbilder.
Zu den „Schlagern“ gehört der 42. Psalm „Wie der Hirsch“ (CD 1) mit seinem wunderschönen Sopransolo. In Melodie und Faktur attraktiv ist der 114. Psalm „Da Israel aus Ägypten zog“ (CD 2), wo das Fagott im 2. Satz Wellen wogen und Berge hüpfen lässt. Der Hymne op. 96 für Altsolo, Chor und Orchester ist hier die Schlussfuge angefügt, die sonst meist fehlt. Mit inniger Schönheit ergreift das Solistenquartett in „Lauda Sion“ op. 73 (CD 4).