Es ist ungefähr 40 Jahre her, dass mit Paul Rutherford und Albert Mangelsdorff ein neuer Abschnitt in der Geschichte der Posaune begann. Beide entwickelten, unabhängig voneinander, auf der Basis einer vollendeten Beherrschung der herkömmlichen neue Spieltechniken und etablierten die Posaune als Soloinstrument.
Nicht, dass sie sich in dieser Sphäre inzwischen als Allgemeingut durchgesetzt hätte, nach wie vor sind Solo-Einspielungen Raritäten und ist die Literatur für Posaune solo begrenzt, und auch nur wenige fühlen sich den Anforderungen solcher Projekte gewachsen. Aber die Existenz einiger weniger spieltechnisch kompetenter Musiker hat mittlerweile Komponisten ermutigt, sich für dieses Instrument etwas einfallen zu lassen; die Dinge sind also im Fluss. Das Doppel-CD-Album „Roor“, das Uwe Dierksen, Posaunist des Ensemble Modern, herausgebracht hat, zeigt einerseits, wie heute der Stand der Dinge ist: Spieltechnisch scheint Dierksen alles zu beherrschen, was seit Mangelsdorffs Entwicklung des multiphonen Spielens an Innovationen entstanden ist, und er beherrscht sein Handwerk so, dass er es nicht nötig hat, das Handwerkliche zu betonen. Es gibt keine stolze Präsentation von Fertigkeiten, dafür aber einen klaren Hinweis darauf, dass für die Kunst des Posaunespielens die konventionellen Grenzen zwischen zeitgenössischem Jazz und zeitgenössischer akademischer E-Musik nicht existieren. Dierksen fügt eigene Improvisationen zwischen komponierte Stücke, entwickelt aus eigenen Improvisationen eigene Kompositionen, erweitert mit seiner Band „Mavis“ den Einzugsbereich der Neuen Musik, um eine vitale popmusikalische Komponente, und er tut all das, ohne seinen hohen technischen Standard und seinen elaborierten musikalischen Horizont preiszugeben.
Seine Verwendung elektronischer Klangkomponenten ersetzt oder übertönt keine Spieltechniken, sondern schafft nur Hintergründe, Strukturen, Kontexte für das Solointrument. Etliche Komponisten, die mit dem Ensemble Modern seit langem zusammenarbeiten – darunter Arnulf Herrmann, Héctor Moro, Johannes Maria Staud, Helmut Oehring – haben für Dierksens Soloprojekt Stücke geschrieben, die dessen Horizont Rechnung tragen und den Solisten angemessen inszenieren und fordern. Andere Stücke sind eigensinnige Interpretationen älterer Kompositionen wie Frank Zappas „Revised Music for Low Budget Orchestra“ oder Luciano Berios Klassiker „Sequenza V“. Zwischen die zugelieferten Stücke hat Dierksen eigene Kompositionen und Improvisationen platziert, die dramaturgische Brücken schlagen, einen Schritt zurück und zwei nach vorn gehen oder eine Art Kniegelenk zwischen Einzelheiten legen, sodass das Album nicht aus beziehungsarm zueinander gefügten Stücken besteht, sondern insgesamt selbst einen komponierten Eindruck macht.
Nach längerem Zögern hat Dierksen sich inzwischen entschlossen, das Album auch als motivationale und strukturelle Basis für Solokonzerte zu nutzen. Die über die Maßen geglückte Premiere fand kürzlich im Rahmen des Festivals Enjoy Jazz in der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg statt.