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Herbert von Karajan und Christa Ludwig, die im März ihren 80. Geburtstag feierte. Foto: Siegfried Lauterwasser/DG
Herbert von Karajan und Christa Ludwig, die im März ihren 80. Geburtstag feierte. Foto: Siegfried Lauterwasser/DG
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Heldenverehrung in den Hüpfburgen des Anekdotischen

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Herbert von Karajan wäre 100 geworden: Ein kritischer Blick auf Bücher, CDs und Gesamteditionen
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„Wie schwer ist es, zu diesem krönenden Geburtstag nur wenige Gedanken auszusprechen.“ Die Verlegenheit Yehudi Menuhins zu Karajans 80. Geburtstag ist geblieben. Was noch sagen, wo alles gesagt, die Superlative ausgereizt, Titel und Würden verliehen, kopiert, wieder eingefügt sind? Heribert Ritter von Karajan, geboren am 5. April 1908 in Salzburg – war er nur im Nebenberuf Kapellmeister, eigentlich aber: das Wunder Karajan, der Dirigent des Wirtschaftswunders, der Generalmusikdirektor Europas, der kontrollierte Ekstatiker, der Maestro der Millionen? Die Auswahl ist ebenso üppig wie unvollständig, wobei im Metaphern­gestöbe, das jetzt zu „Karajan 100“ noch einmal durch die Windkanäle der Feuilleton-Redaktionen und Marketing-Institutionen geschickt wird, sich vergleichsweise rar macht, was Menuhin vorschwebte: Gedanken zu Herbert von Karajan.

Ein Blick auf den aktuellen Karajan-Bücher- und Plattenmarkt bestätigt den Befund: Substanz eher an den Rändern der Gedenkmaschinerie, die selbst noch einmal ein großes Geschäft werden soll, eine Art Trostpflaster für an ihrer Mission zweifelnde Tonträgerproduzenten in Endzeitstimmung. Gott sei Dank downloaden Klassik-Kunden ungern, stellen sich lieber ihre Kauf-CD ins Regal, weshalb denn auch ein Unternehmen wie die Deutsche Grammophon noch zehn Jahre nach Karajans Tod fast ein Drittel ihres Umsatzes immer noch mit Karajan-Wiederveröffentlichungen bestreitet. Allenfalls mit dem „Image“ ihres Heroen hätte man heute, so hört man, „Probleme“, will sagen: Absatzprobleme. Die wiederum – noch stimmen die Reflexe – geht man streng marketingmäßig an. Die Allzwecksalbe, die aufgetragen wird, folgt bewährter Rezeptur, wenn etwa eine „wunderbare Zusammenstellung seiner grandiosen Interpre­tationen von Bach bis Vivaldi“ als „Karajan Gold“, eine die Werkzusammenhänge aufhebende Kunterbuntmischung exakt zum Termin auf den Wühltisch geworfen wird. Mag Karajan selbst auch noch so sehr an Werk und Werkidee, an Geschlossenheit und Zyk­len festgehalten haben – egal. Die Highlight-Show muss weitergehen. So wird recycelt auf Teufel komm raus. Den Überblick zu behalten ist schwer. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht irgendeine Best-of-Mischung in den Warenkorb geklickt werden kann. Spätestens seit 2007 läuft das Fließband: „Master Recordings“ 1959 bis 1979 (10-CD-Box); „Complete recordings Karajan/Mutter 1978 bis 1988“ (5 CDs), „Karajan – The music, the legend“ (CD/DVD), „Karajan – Symphony Edition“ (4-CD-Box); pünktlich zum Geburtstag „Karajan 2008“ (2 CDs, 1 DVD), „Karajan in concert“... Allenthalben wird wiederveröffentlicht, umetikettiert. „The Great Decca Recordings“ (9-CD-Box) von 1995 erscheinen als „The legendary Decca Recordings“ und auch Sony-BMG sucht neue Käufer für seine alten Karajan-Home Videos. Die Karajan-Zitronenpresse – noch leistet sie weiter gute Dienste.

Einzig EMI, Karajans erster großer Partner nach dem Krieg, fällt mit ihrem Beitrag zum Karajan-Jahr merklich heraus. Wo die Mitbewerber weitertaktieren, sich dies und jenes noch fürs eine oder andere Jubiläum aufheben, hat sich EMI entschieden und zwei wuchtige Monumentalboxen aufgelegt: „Karajan – The complete recordings 1946–1984“ (Vol. I: Orchestral, 88 CDs, Vol. II Opera and Vocals, 72 CDs). Ein Unternehmen auf Augenhöhe insofern Karajan in Fortsetzung der großen Editionsprojekte des 19. Jahrhunderts den Begriff des Musikdenkmals ja tatsächlich ganz neu definiert hat. Das Repertoire von Bach bis Strawinsky (je nach Stand der Technik mit einem kompositorischen Gesamtwerk auch in mehrfacher Einspielung) als enzyklopädisch angelegtes Tonkunstklang-Dokumentations-Unternehmen. Solchem Anspruch hat EMI mit dieser prachtvollen Edition zweifellos Rechnung getragen. Bedauerlich ist, dass ein Projekt dieses Umfangs die Plattencover- und Begleithefttexte aus 25 Jahren unter den Tisch hat fallen lassen. Wer so sichtbar eine Ära abschließt, sollte es mit einem Minimum an historischem Bewusstsein, an wissenschaftlich-dokumentarischen Sekundär­tugenden tun. Hier fehlt es etwa an so elementaren Dingen wie einem Index, der die beträchtliche Informationsmenge erschließen hilft.

Wenn es eine Tendenz des Materials zum Großereignis „Karajan 100“ gibt, ist es die Legenden­erzählung. Der Heros, so die unausgesprochene Regiean­weisung, darf nicht greifbar sein, er ist aus den Konflikten der Realität zu entlassen. Die Folge ist ein denkwürdiger Spagat: Einerseits ist Karajan Person der Zeitgeschichte, andererseits soll er über diese Geschichte herausragen, womit es wieder hervorgeholt ist – das alte Ritual der Heldenverehrung. Wohin gehört der Held? Auf sein Denkmal! Eine Botschaft, die die Deutsche Grammophon verstanden hat: „Karajan – Mensch und Mythos“ ist „das erste Hörbuch über ein in vielen Belangen außergewöhnliches Künstlerleben“. Unter allen Veröffentlichungen im Karajan-Gedenkjahr gehört es zu den fragwürdigsten. Autor Richard Osborne hat seine wiederaufgelegte 1000-Seiten Biografie (Herbert von Karajan – Leben und Musik, dtv, München, 2002) als Steinbruch benutzt. In der Hörbuch-Version (DG 00289 480 0365, 3 CDs) wird daraus „Ein Porträt in sieben Szenen“, das das Gebrochene dieser Biografie auch durch einen alibabahaften Erzählton ins stilisiert Literarische zu wenden sucht. Wo immer der Fluss ins Stocken geraten könnte, wird weg-, wird überblendet. Im Grunde ist Karajan Pazifist, erfahren wir von Osborne, zwar auch ein „Anführer von suggestiver Kraft“, ein „Hypnotiseur“, aber eigentlich ein „Mann der Berge“, jedenfalls nicht von dieser Welt. Da muss die Erwähnung des Entnazi­fizier­ungs­­verfahren irgendwie hineingerutscht sein, war doch von einem vorange­gan­ge­nen NSDAP-Mitglied Herbert von Karajan nichts zu hören, schon gar nicht vom Ver­such desselben, zwei Mal Mitglied bei den Nazis zu werden. Nein, für den gewissen­losen Opportunismus Karajans hat diese abhörbare Künstlerbiografie kein Ohr. Man ahnt, was da auf uns zukommt, wenn dieser Prototyp ‚Biografie als Hörbuch’ einmal in Serie geht ...

Schön- und kleingeredet wird auch in einer anderen Jubiläumsproduktion. „Christa Ludwig: Meine Dirigenten Bernstein, Karajan, Böhm“ (DG 442 9975, 3 CDs) kombiniert die äußerst hörenswerten Aufnahmen der Sängerin, etwa ihre berückend schönen Mahler-Rückert-Lieder unter Karajan, mit Anekdotischem. „Markante Erinnerungen“, so die Eigen­werbung, sehen anders aus. Und inwiefern aus jeder Anekdoten-Hüpfburg ein Buch werden kann, beweist der Ullstein-Verlag, indem er für die Liebhaber der leichten biographischen Kavallerie die Erinnerungen des ehemaligen Mannequins und letzter Karajan-Ehefrau Eliette von Karajan abgedruckt hat. Das Buch mit repräsentativen Fotografien aus dem Familienalbum handelt von der „Geschichte einer großen Liebe“, von einem Prinzen, einer Prinzessin und einem Schloss. (Eliette von Karajan: Karajan – Mein Leben an seiner Seite, AutoBiografie, Ullstein, Berlin 2008)

„Wie schwer ist es, zu diesem krönenden Geburtstag nur wenige Gedanken auszusprechen.“ So recht Menuhin hatte – eines kann hinzugefügt werden: Es geht. Man muss nur wollen. Zu den Karajan-Auseinandersetzungen von Erwachsenen für Erwachsene zählen insofern vor allem jene Perspektiven, die sich dem Musiker über seine Musik nähern. Mit Eleonore Büning (Herbert von Karajan – Ein Dirigent wird besichtigt, SWR2, 14 Teile; Karajan Dirigent – Ein Interpret wird besichtigt, insel taschenbuch 3327, Frankfurt am Main 2008) und Peter Uehling (Karajan – Eine Biografie, rowohlt 2006) profilieren sich dabei ausgerechnet zwei Autoren, die den Dirigenten nicht mehr bewusst erlebt haben

In beiden Fällen (auch wenn zumal Uehling sein Unternehmen immer noch explizit als Biografie ausgibt – was sein Anliegen gerade nicht ist) geht es um die Ästhetik der Tonkunst wie Karajan sie verstand. Was genau definiert den Karajan-Sound? Wie, um welchen Preis wird er erzeugt? Was geht dabei aufs Konto der Studiotechnik? Und: Stimmen wirklich alle Vorurteile? Was genau erbringt ein Interpretations­vergleich Karajan/Boulez, Karajan/Harnoncourt? Schließlich: Was bleibt von Karajan? – Auch wenn damit längst nicht alle Widersprüche aufgelöst, sämtliche Fragen gestellt sind und auch wenn der karajan-immanenten Tendenz zur Enthistorisierung der Musik nicht immer entschieden genug widersprochen wird – ein Anfang ist gemacht.

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