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Der Pianist und Komponist Martin Tchiba steht mit den Potentialen elektronischer Klangerzeugung auf gutem, erfrischend unakademischem Fuß

Der Pianist und Komponist Martin Tchiba steht mit den Potentialen elektronischer Klangerzeugung auf gutem, erfrischend unakademischem Fuß

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Intelligente Perspektiven

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Neue CDs neuer Musik, vorgestellt von Dirk Wieschollek
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Sara Glojnaric erprobt die ästhetische Neubestimmung bereits existierender Musik gerne in ganzen Werkreihen, die Jazz- und Pop-Idiome aus individuellen Musikerfahrungen filtern.+++ „Listening Machines – Ecological Perspectives“ verspricht die neue CD-Ausgabe der DEGEM +++ Der Pianist und Komponist Martin Tchiba steht mit den Potentialen elektronischer Klangerzeugung auf gutem, erfrischend unakademischem Fuß.

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Sara Glojnaric erprobt die ästhetische Neubestimmung bereits existierender Musik gerne in ganzen Werkreihen, die Jazz- und Pop-Idiome aus individuellen Musikerfahrungen filtern. „sugarcoating“ (2017) ist ein veritabler Free-Jazz für Ensemble, der effektiv konstruiert ist, aber selten so klingt; „sugarcoating #4“ (2022) verwandelt das Orchester in ein vom Drum-Set angeheiztes Kraftwerk, das in der Fragmentarisierung des Vertrauten beachtliche Energien freisetzt. In „Pure Bliss“ (2022) hat die Komponistin persönliche Gänsehautstellen (der Mitglieder des Klangforums Wien) zwischen Monteverdi und Whitney Houston zu einem verführerischen Ambient amalgamiert, das sich via Tape mit den Instrumentalklängen des Ensembles mischt. Die „Arte­facts“ bringen das trügerische Feld musikalischer Erinnerung mit vokalen Mitteln zur Sprache: „Artefacts #1“ (2018) transformiert ikonografische Momente popkultureller Sangeskunst für sechs Vokalsolist*innen, Tape und Video unter parodistischer Einbeziehung von Timbre, Stil und Gestik. Auch in „Artefacts #2“ (2019) für Sopran, Drumset und Tape wird vokales „Lieblingsmaterial“ bis zur Unkenntlichkeit in zerrissenen Loops und chaotischen Zuspitzungen verhackstückt, was jederzeit ins Groteske umschlagen kann. (Kairos)

An den Kapazitäten und Abgründen „Künstlicher Intelligenz“ scheint im Moment niemand so recht vorbeizukommen. „Listening Machines – Ecological Perspectives“ verspricht die neue CD-Ausgabe der DEGEM (Deutsche Gesellschaft für elektroakustische Musik), kurariert von Nicola L. Hein. Henrik von Coler nimmt das mit „Chaos in the Garden“ gleich beim Wort. Er hat dessen Gestaltung komplett ChatGPT überantwortet und das Ergebnis anschließend für das Elektronische Orchester Charlottenburg hergerichtet. Herausgekommen ist eines der aufregenderen Stücke dieses Samplers: eine düster dystopische Klanglandschaft, die mit militärischen Rhythmen zum Bedrohungsszenario mutiert. Einer der Wenigen, die die absurden Aspekte der KI künstlerisch gewinnbringend getestet haben, ist der Jüngste hier im Bunde: Leon Senger (*1995) ist in der Mainzer Innenstadt auf Stimmenfang gegangen und hat mit multiplen Filterungsprozessen Sprache in absurde Artefakte ohne Sinn und Verstand verwandelt: „Artificial Conversations: Discussing Intelligence“. Vielleicht liegt es am latent „didaktischen“ Konzept der 23. DEGEM-Ausgabe, dass so mancher Beitrag allerdings eher gepflegte Langeweile verbreitet. (Edition DEGEM)

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Der Pianist und Komponist Martin Tchiba steht mit den Potentialen elektronischer Klangerzeugung auf gutem, erfrischend unakademischem Fuß

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Auch der Pianist und Komponist Martin Tchiba steht mit den Potentialen elektronischer Klangerzeugung auf gutem, erfrischend unakademischem Fuß. Nach seinem pandemischen CD-Debüt (als Komponist) namens „klang collection“ heißt es nun „puzzle, post, poire“: „sich in den straßen verlieren – die städte, jetzt, elektrisiert nach einsamen jahren – (und ein obst)“ hat Tchiba dem Ganzen vorangedichtet. Also raus ins Urbane und seinen sozialen Verheißungen? Ja und Nein. Vielen der elektronischen Kompositionen liegen Field Recordings (aus der Infrastruktur Budapests, Wiens oder Düsseldorfs) zugrunde, gebastelt wird aber zu Hause. Und das meint bei Tchiba verfremden, modifizieren und strukturell transformieren, konstruktive Fehler und Artefakte ästhetisch weiterdenken. Nach wie vor ist dabei das Klavier eine Art elektroakustische Home-Base, die das Material für hybride Klangprozesse liefert. Am deutlichsten in den vier „pp“-Stücken, die eine irrationale Hyper-Virtuosität erzeugen. Oft aber sind die klanglichen Ressourcen nicht mal ansatzweise wiederzuerkennen und führen in ganz andere Hör-Richtungen: Da werden Klaviertöne digital so zerdehnt, dass sie klingen wie sphärische Chöre oder Glasharmonikaklänge, verwandelt sich das Öffnen einer Smartphone-Hülle in rhythmische Pulse. Die Doppel- und Mehrdeutigkeiten, die Tchiba in seinen lakonischen Titeln mit Lust am Sprachspiel auslebt, finden sich im Habitus der Musik wieder, mit vielen Quer- und Rückbezügen innerhalb der Gesamtdramaturgie. 15 Stücke, die auf permanenten Umfärbungen, Verschiebungen und Neukombinationen ihrer Materialien beruhen und deren „private“ Hintergründe und konstruktive Kniffe man nicht kennen muss, um ihnen persönlich etwas abzugewinnen. (emt) 

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