Um 1980 hatte sich der Jazzrock nach einem Jahrzehnt voll Erfolgen in der Routine verfangen oder dem Kommerz ergeben. Statt der elektrischen Klänge begann man zurückzuschauen auf jene, die in den 70er-Jahren übertönt worden waren. Es war eine gute Zeit für die Vertreter der modernen Tradition und für Rundfunksender, die Schätze verewigten, die heute gehoben werden.
Klangjuwelen mit Chet Baker und Pharoah Sanders
1979 war ein besonders gutes Jahr für den Trompeter und Sänger Chet Baker, für den Europa immer mehr zur Heimat wurde, das er von Auftritt zu Auftritt, von Studio zu Studio durchstreifte. Davon zeugen heute zwei deutsche Alben mit dem Vibraphonisten Wolfgang Lackerschmid, die erste italienische Zusammenarbeit mit dem Pianisten Enrico Pieranunzi, englische Produktionen etwa mit der Sängerin Rachel Gould und viele ausgezeichnete dänische Platten. Sie wecken höchste Erwartungen an die Fundstücke, die unter dem Titel „Blue Room. The 1979 Vara Studio Sessions. In Holland“ veröffentlicht wurden. Man ist gespannt, gibt es von ihm um 1980 doch auch viele Aufnahmen mit drogenbedingten Konditionsschwächen und grottenschlechter Aufnahmequalität. Doch diese Aufnahmen aus Hilversum machen noch den kritischsten Hörer zum akustischen Totalgenießer. In bester Studioqualität wurde ein inspirierter Baker ohne Ansatzschwächen auf der Höhe seines gestalterischen Könnens eingespielt. Besonders geglückt sind die acht Stücke vom 10. April mit seiner damaligen Working Band, bestehend aus dem Pianisten Phil Markowitz, dem Bassisten Jean-Louis Rassinfosse und dem Drummer Charles Rice. Bakers warmer Sound der späten Jahre berührt das Herz, seine geradezu perfekte Phrasierung wird von keinerlei Ansatzproblemen beeinträchtigt und eine tiefe, wie Seelenbalsam wirkende Ruhe, die so eigentümlich zu seinem rastlosen Leben jener Jahre kontrastiert, prägt Stücke wie das eine Viertelstunde in tiefster Konzentration zelebrierte „Blue Room“, das vergleichsweise zeitlupenhaft und inniger daherkommt als die bekannte, zwei Monate später entstandene Version aus Kopenhagen. Es findet sich auch eine friedvolle Version von „Nardis“, wohl Bakers erste eines Stückes, das in jenen Tagen ein Bill Evans besessen und aufwühlend spielte. Nicht so vollkommen, doch gleichwohl gelungen auch die vier Aufnahmen vom 9. November, auf denen Baker von holländischen Kollegen begleitet wird: Frans Elsen (p), Victor Kaihatu (b) und Eric Inneke (d). Zev Feldman hat das Album veröffentlicht und daher kommt es wie gewohnt mit einem informativen Booklet voller Interviews mit Zeitzeugen und Musikern daher. (Jazz Detective)
1980 gastierte der 2022 verstorbene Tenorsaxophonist Pharoah Sanders in der Hamburger Fabrik im Quartett mit John Hicks (p), Curtis Lundy (b) und Idris Muhammad (d). Vier der fünf Stücke kennt man aus seinem Doppelalbum „Journey To The One“, insbesondere das packende „It’s Got To Be Freedom“ auf „Live At The Fabrik“ als „You Gotta Have Freedom“ betitelt. Ohne die asiatisch ausgerichteten Stücke mit Sitar und Koto tritt seine damals gerade beginnende Hinwendung zu traditionellerem Musizieren und zum Great American Songbook (hier etwa in der Ballade „It’s Easy To Remember“) deutlicher in Erscheinung; auch kommt sein Power Play ohne Chor und in der Hitze des Live-Events besser zur Geltung. Diese Hinwendung bedeutete freilich nicht, dass er seine Überblastechniken und seine Saxophon-Schreie an den Nagel gehängt hätte. In Hamburg spielte er auch seine Hymne „The Creator Has A Master Plan“, das, wie kein anderes Stück von 1969 den Geist der Entstehungszeit – friedensbewegtes Flower Power und Suche nach spiritueller Innerlichkeit – repräsentierte. Die Botschaft von Frieden, Glück und Harmonie kam mitten in Zeiten des Vietnamkrieges so überzeugend an, dass sie, obwohl sie vom Free Jazz kam, ein Hit wurde. 1980 war sie ebenso aktuell wie heute. (Jazzline)
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