Alles vorbei nun. WM, Sommer, Sonne, Papstbesuch. Relikte bleiben: Abgerissene Fahnen, immer noch schwankende Patrioten. Glaubende Ungläubige. Die Tristesse kehrt zurück. Wir wachen auf, stellen ernüchtert fest, wie es uns in den letzten Wochen erging. Steuern rauf, Einkommen runter, Kriege werden geführt. Flucht unmöglich. Und wenn, dann musikalisch. Bitte jetzt losrennen:
Der „BBC Radio 1“ DJ Rob Da Bank hat sich alle Tracks der „Folk Off“-Kompilation selbst ausgesucht. 30 Volltreffer. Die Nu-Folk Bewegung hat einfach Reife und Charme. Während die eine Künstlerschar ihre Songs weiter aufmotzt und hoch technisiert, gehen Künstler wie Laura Cantrell, Sufjan Stevens, Tunng, Magnetophone oder Animal Collective die Einbahnstraße entlang. Natürlichkeit ist Trumpf, die Reduktion wird zur Essenz, die Sinnlichkeit zur Muse, die Einfachheit zur Mode. Wer sich einen ersten, informativen Überblick der Szene verschaffen möchte, muss hier zugreifen.
Kai-Uwe Kolkhorst aus Lüneburg hat seine Gitarre, samt elektronischer Drumsmaschine und Verstärker wieder hochgeladen. Er hechtet souverän von Elektrofolk zu Bits&Bytes-Rock. Oder liegt mittendrin. „Wir sind größer“ suggeriert den Drang rauszumüssen. Aufbruchstimmung. Ein unruhiges aber angenehmes Flair, das dem Album Bedeutung vermittelt.
Sufjan Stevens, Songwriter aus Detroit ist unbesiegbar. „The Avalanche“ strahlt Wärme aus. Wunderbar opulent-orchestraler Pop, dazu Indie-Rock getragen von süßen wie humorlosen Gitarren. 21 Songs plus „Outtakes“ stehen zur Hörverfügung. Ein nächster famoser Meilenstein in Stevens Lebensziel ist genommen. Er möchte ja nur jedem US-Bundesstaat ein Album widmen. Bitte nicht mehr perfekter werden. Hubert von Goisern zwischenbilanzierte bereits im Juli mit „Derweil 1988–2006“ seine Karriere. 18 Jahre von Goisern heißt auch: 1.000 Konzerte, 1,5 Millionen verkaufte Alben und 34 Songs auf zwei CDs, die das Bisherige zusammenfassen. Authentizität pur. HvG ist so, wie er ist. Hätte er 80 Millionen Platten verkauft, würde er so sein, verkaufte er nur 100 Platten, wäre er der Gleiche. Er passte nach Amerika wie nach Afrika. Er zeigt uns, wie man kulturell lebt, ohne den gesetzlich förderungswürdigen Hammer auszupacken. Sehr geradlinig.
Kaum eine Bar scheinen Ezio ausgelassen zu haben. Mit „Ten Thousand Bars“ werden Ezio Lunedei und Mark „Booga“ Fowell zum Lieblingsbarkeeper. Ein Songwriter-Duo, das sich im Indie Folk wohlfühlt, akustischen Rock liebt und großartige Popmelodien erfindet. Und stets dezent instrumental bekleidet bleibt. Eine Gefühlsplatte, die man nach vier Minuten liebt.
Aus der US-Untergrundszene sind Eagle Seagull. Vier Männer, eine Frau. Aus Lincoln, Nebraska. Zarter, bedächtiger Indie-Rock rollt da über uns. Getragen von guten Gitarren, verzaubert durch eine taktvolle Bowie-Nähe und klebrige Orgeln. Kann aber auch sehr folkig, beinahe countryesk tönen. Wilco schimmern durch, in den emphatischen Momenten. Bezeichnend ist die unglaubliche Ruhe der Platte; selbst wenn es laut wird. Unnachahmlich die arsenhaltige Süße im Gesang. Und obwohl jeder Song anders ist, scheint er ein Stück Eagle Seagull preiszugeben.
Schon das vorherige Album „Weather“ der Schweizer Band Lunik hat überzeugt. Und war erfolgreich. Weil man sich traute, Popmusik scharfkantig zu fertigen. Keine Schablonen wurden da eingetütet.
So auch diesmal. Drückende Beats passen pefekt zu allen tragenden Melodien von Sängerin Jael, verschrobene Elektronikhilfen schaffen Atmosphäre und „Preparing to leave“ wird definitiv ein würdiges Nachfolgealbum für „Weather“. Popmusik auf neuem Niveau. Lässiger als Pete Alderton ist wohl niemand in diesem Jahr. Der Engländer liefert das Bluesalbum des Jahres. Getränkt mit den Wurzeln des britischen Blues, angereichert um amerikanische wie afrikanische Wurzeln, spielt sich Alderton quasi in einen Rausch. Er singt brillant einfach, begleitet sich und seinen Akustik- Blues gerne allein, kann aber auch mit Band. Der Blues bekommt mit Pete Alderton eine neue Stimme, eine andere Farbe und ein unbeschreiblich ungeniertes Album.
Ein klarer Jazzfall ist Sophie Milman, denn wenn schon Jazz, dann so. Die 23-jährige Russin (geboren in Israel) könnte wohl auch als Modell arbeiten. Oder Dolmetscherin, parliert sie doch nebenbei noch in vier Sprachen: Hauptsächlich fällt sie jedoch durch frischen Jazz und gelungene Kompositionen wie Interpretationen auf. Locker fallen die Noten, flauschig setzt sich die Stimme, tief bleibt der Eindruck. Gefeiert wird sie in den Staaten neben Helden wie Diana Krall oder Michael Bublé. Ihr selbst betiteltes Debutalbum verkauft sich seit März 2006 wie „Harry“. Und das zu Recht. Die Stones mal lateinamerikanisch. Diese unbeschreiblich wie unvermeidbare Idee findet sich auf „Bossa ´n´ Stones“. Die größten Hits mal eben ins Bossa-NovaGewand geschoben. Das funktioniert prächtig und bedeutet, dass viele Songs der Stones eben doch zeitlos sind. Was für ein Ende.
Diskographie
V.A. – Folk Off (Sunday Best, August 2006)
Kolkhorst – Wir sind größer (tapete, August 2006)
Sufjan Stevens – The Avalanche (Rough Trade, August/2006)
Hubert von Goisern – Derweil 1988–2006 (SonyBMG, Juli/2006)
Ezio – Ten Thousands Bars (tapete, September 2006)
Eagle Seagull – Eagle Seagull (Lado, September 2006)
Lunik – Preparing to leave (Silversonic, September 2006)
Pete Alderton – Living on Love (Songways, September 2006)
Sophie Milman – Sophie Milman (Linus, September 2006)
V.A. – Bossa ´n´ Stones (SonyBMG, August 2006)