Wilhelm Middelschulte: Orgelwerke. Jürgen Sonnentheil an den Woehl-Orgeln in St. Petri Cuxhaven, St. Michaelis Hildesheim, St. Petrus Canisius Friedrichshafen. (2000 bis 2007)
cpo/jpc 999 739-2, 999 962-2, 777 144-2, 777 215-2
Die Orgel steht im Musikinstrumentenpark in einer der hinteren Reihen. Von dort in die Öffentlichkeit zu wirken war ihr immer nur in Grenzen möglich. Deshalb hat sich die Tradition so berühmter Orgelbauer der Bach-Zeit wie Arp Schnitger im norddeutschen und Silbermann im sächsischen Raum stets mehr im Stillen fortgesetzt, und die Aufnahme von Orgelmusik vollzog sich entsprechend mehr im intimen Gesellschaftsbereich kennerischer Rezipienten. Daran hat sich durch die Jahrhunderte kaum etwas geändert. Das heutige allgemeine Konzertpublikum zählt nach Tausenden und bereitet der Musik die ihr gebührende Öffentlichkeit. Orgel-Enthusiasten zählen dagegen nach Hunderten und bleiben mit dem Gegenstand ihrer Verehrung unter sich. Bachs Brandenburgische Konzerte sind in aller Munde im Gegensatz zu seinen nicht weniger bedeutenden Orgelfugen, an denen Fachleute und Liebhaber sich genußvoll reiben.
Beliebtheit (und Kenntnis) der Orgelmusik und die daraus sich ergebende berufliche Situation ihrer Interpreten bedingen sich wechselseitig. Klavier- und Violin-Solisten können zu Spitzenvertretern im musikalischen Veranstaltungsgeschäft avancieren. Kaum hingegen Organisten, woran ihre fachliche Kompetenz nichts ändert. Ihr Ansehen (und die Rede ist nicht von Sonntagsmorgen-Organisten, die im übrigen keineswegs zu übergehen sind) entspricht dem ihrer wunderbaren, in vielen Einzelexemplaren hochberühmten, aber nicht adäquat eingeschätzten Instrumente: Beide sind infolgedessen auf Zuneigung und verlässliche Kennerschaft angewiesen. Ein Blick zurück in das Konzertwesen nach 1945 beweist: Man kennt die Pianisten Edwin Fischer, Walter Gieseking und Wilhelm Kempff. Wer aber erinnert die Organisten Günther Ramin, Helmut Walcha, Michael Schneider, Gerd Zacher, Almut Rößler – alle eminente Orgelspieler und oft ausgewiesene Spezialisten bezüglich ihrer Repertoirevorlieben?
Geht man hundert Jahre zurück, so stößt man auf die Generation ehedem hochangesehener, heute kaum noch dem Namen nach bekannter Konzertorganisten wie Wilhelm Middelschulte, Karl Straube, Albert Schweitzer, Gerard Bunk. Schweitzer kennt man, aber als Arzt in Lambarene, nicht als Künstler. Die reiche westfälische Orgellandschaft, in der der Holländer Bunk wirkte und Middelschulte aufwuchs, verlockte Max Reger und den Leipziger Thomaskantor Straube, zu Orgeln anzureisen, auf denen sie konzertierten.
Middelschulte (1863–1943) wurde ein hochangesehener, in Berlin tätiger Orgelvirtuose und gesuchter Lehrer. Amerikanische Schüler (und die Liebe zu einer Schülerin, die er heiratete) überzeugten ihn, in den USA eine Orgel-Konzertkultur zu etablieren, was er über Jahrzehnte erfolgreich tun konnte. In Chicago lernte er den aus Erfurt stammenden Musiktheoretiker Bernhard Ziehn kennen, bei dem er erneut Kontrapunkt studierte. An Ziehns und Middelschultes kompromißloser musikalischer Arbeit begeisterte sich 1910 Ferruccio Busoni und feierte sie mit seinem Aufsatz „Die “Gotiker” von Chicago, Illinois“, der in einem deutschen Fachblatt erschien und auf diese Weise bleibend in die Literatur eingegangen ist. Ohne ihn würde man von Wilhelm Middelschulte vielleicht nie gehört und ihn nicht im Gedächtnis behalten haben. Organisten haben sich Middelschul-tes eigener Musik – er komponierte aktiv für sein Instrument – in der näheren Vergangenheit sporadisch, aber im ganzen beständig angenommen. In einer inzwischen auf vier CD-Alben angewachsenen (offenbar leider vorzeitig auslaufenden) Edition des Labels cpo tut dies seit 2000 der Organist Jürgen Sonnentheil. Mit Hans-Dieter Meyer, der für drei der CD-Alben fachlich hochstehende, dabei gut lesbare Booklet-Texte verfaßt hat, wird er außerdem im Bärenreiter-Verlag eine Middelschulte-Werkausgabe veröffentlichen, deren erster Band im Januar 2007 erschienen ist.
Middelschultes kompositorisches Œuvre kreist um das nahezu mythische Zauberwort Kontrapunkt und damit – wie könnte es anders sein? – um Johann Sebastian Bach. Auf dessen thematischem Material basieren seine Originalwerke, wenn er nicht Bach’sche Originale auf die Orgel übertragen hat wie die Violin-Chaconne oder die d-Moll-Orgeltoccata in einer Fassung für Orgel und Klavier. Middelschultes Opus summum in dieser Abteilung sind Bachs Goldberg-Variationen, die Sonnentheil so virtuos wie vertieft spielt. Er berücksichtigt alle Wiederholungen, weil er beim jeweils zweiten Durchgang Stimm- und Verzierungsergänzungen, dynamische Modifikationen und anderes mehr, das Middelschulte nur in seinem Handexemplar notiert hat, anbringt und dadurch die Klangpalette fantasievoll bereichern kann.
Der zweite Höhepunkt in Middelschultes Bearbeitungsschaffen ist Busonis Fantasia Contrappuntistica. Quasi unter den Augen Middelschultes hat der Komponist sie in Chicago abgeschlossen und dem „Gotiker“ aus Westfalen gewidmet. Busonis gipfelstürmendes Werk, von ihm selbst durchaus als ein solches gesehen, wirkt in Middelschultes Orgelfassung kontrastvoller, vielschichtiger und in mancher Hinsicht reicher noch als in der originalen Version für zwei Klaviere. Das von Busoni intendierte klingende Mysterium des Kontrapunkts realisiert sich in Middelschultes Transkription als um eine sinntragende Dimension bereichert, ohne den zweifellos mitspielenden Reiz erhöhter Substanz-Verdichtung zu strapazieren.
Die Finderfreude und Anregungsfülle, welche die vier CD-Alben spenden, regen zu sorgfältigen Hörstudien an. Sonnentheils Darstellungen, welche die dankbar aufzunehmende Voraussetzung dafür bieten, werden präsentiert auf Orgeln in Cuxhaven, Friedrichshafen und Hildesheim, auf großmächtigen und in diesen Aufnahmen sehr dunkelgrundig klingenden Konzertorgeln aus der Marburger Werkstatt von Gerald Woehl. Woehl hat viele deutsche Orgeln, oft auf der Grundlage berühmter Vorgängerinstrumente zum Beispiel von Arp Schnitger, restituiert und erweitert, aber ebenso Instrumente neu disponiert und realisiert. Das Klangbild der Sonnentheil-Einspielungen liefert den realen Raumhall illusionär mit, so dass die jeweilige Orgel an ihrem Standort authentisch wiedergegeben wird und jeder Anflug von steriler Studioatmosphäre vermieden ist. Schade, dass das Middelschulte-Projekt, das sich zugegebenermaßen an Liebhaber einer ausgesuchten Musikliteratur richtet, offenbar nicht fortgesetzt werden kann. Die Marktgesetze erweisen sich mal wieder als stärker denn aller Enthusiasmus und jedes ideelle Engagement auf Seiten der künstlerischen Initiatoren. Diese vier Alben bleiben immerhin wichtige, wenn auch Dokumente mit Fragment-Charakter, Wilhelm Middelschulte zu Ehren.