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Über vieles hat man sich im Umfeld der Straußischen Musik schon längst – und so gut wie weltweit – geeinigt: ihr erfrischender Impuls, ihre Unverbrauchtheit im Sinne rhythmischer und melodischer (und von Fall zu Fall auch praktisch-tänzerischer) Einprägsamkeit und Brauchbarkeit, ihr einschmeichelndes Kolorit, ihr verachtungsvolles Tempo in den schnellen Polkas und Galoppen.
Dies alles und noch etliches mehr vermochte sich im Bewußtsein einer musikliebenden – so-wohl privilegierten – Weltöffentlichkeit als akustisches, vital-spezifisches Markenzeichen Wienerischen Selbstverständnisses (und -genusses) so unauslöschlich einzuprägen wie etwa das Rechtsgefühl für die Maximen der französischen Revolution. Hingegen mochte man sich in Fach- wie in Dilettantenkreisen bis zum heutigen Tag noch nicht auf eine verbindliche Schreibweise des Strauß’schen Familiennamens einigen. Die jüngst zum 150. Todestag von Johann Strauß (Vater) und zum 100. Todestag des Sohnes in „limitierter Edition“ (!?) von den Wiener Philharmonikern herausgegebene Jubiläums-Kassette „Wiener Philharmoniker – Johann Strauß“ gibt von dieser orthographischen Kalamität reichlich Zeugnis. Im allgemeinen hat man das altertümliche ausgemerzt, aber schon auf der dritten Seite findet sich die alte Schreibweise, nämlich dort, wo sich die Wiener Philharmoniker bei diesem und jenem für die „grosszügige Überlassung der Rechte und Aufnahmen der Johann-Strauß-Edition 1999“ bedanken.
Die interessante programmatische Grundidee dieser Strauß-Edition besteht darin, jedes Werk, das die Wiener Philharmoniker in ihrer knapp 80jährigen Aufführungsgeschichte von den beiden Sträußen (Vater und Sohn) je aufgenommen haben, in mindestens einer Schallplattenversion bereitzustellen. So enthält die schmucke, rot grundierte Box auf insgesamt elf CDs mehr als 140 verschiedene Kompositionen. Die hüllentextliche Versicherung, „alle großen Strauß-Dirigenten des Jahrhunderts“ seien in dieser Edition vertreten, tönt freilich nicht nur etwas vermessen, sondern sie ist – selbst auf die Wiener philharmonische Tradition hin eingeengt – schlichtweg falsch. Ich möchte hier nicht mit Namen aufwarten, die sich als Strauß-Kapellmeister von hohen Graden erwiesen haben, jedoch nicht in den Genuß gekommen sind, die Wiener Philharmoniker auf diesem musikalischen Mutterboden zu führen. Indes fällt es doch sofort auf, daß in dieser so anspruchsvollen Edition der Name Carlos Kleiber fehlt. Er wird zwar im Begleittext von Clemens Hellsberg als Dirigent der Neujahrskonzerte 1989 und 1992 genannt. Aber man hat den anspruchsnervösen Maestro wohl nicht davon überzeugen können, neben geschätzten und weniger geschätzten Kollegen gleichsam im Mehrfachpack aufzutreten. Vielleicht irritierte ihn auch die Tatsache, mit seinem (oder gar gegen seinen!) Vater Erich in Konkurrenz zu geraten, dessen frühe Aufnahmen von 1929 im historischen Teil zusammen mit Einspielungen von Krauss, Szell, Walter, Knappertsbusch, Böhm, Karajan, Furtwängler und Krips zusammengefaßt sind. Das ist bedauerlich nicht nur für die Wiener Philharmoniker, denn mit Kleiber hatten sie für zwei Neujahrstage den wohl mitreißendsten, unvergeßlichsten Strauß-Interpreten an ihrer Seite (und an ihrer Spitze), den man in Ton und Bild wohl je erlebt hat.
Die zwei historischen CDs (Nr. 9 und 10) sowie eine CD (Nr. 11) mit Werken von Johann Strauß (Vater) sind als Bonus-CDs gekennzeichnet, wobei mir nicht ganz klar ist, ob der Herausgeber hier an einen gesamtpreislichen Vorteil seitens des Käufers denkt oder ob er diese drei Platten auch vom künstlerischen Status her etwas von den neueren Einspielungen abrücken möchte. Mir schmeckt dies ein wenig zu sehr nach werbestrategischem Schnick-Schnack, zumal man sich ja seitens der philharmonischen Leitung generell überaus seriös gebärdet. Die historischen Hintergründe und Entwicklungen werden von Altmann und Hellsberg genau und übersichtlich geschildert: die knappen Werkbeschreibungen von Franz Mailer haben instruktiven Pfiff – und auch die Titeleien samt Daten und Fakten zur Herkunft der Einspielungen lassen keine Wünsche übrig.
Zu den drängendsten Fragen gehören jene, wie sich die alten Aufnahmen zu behaupten vermögen, wie sie sich stilistisch gegen die neueren Einspielungen abheben, und wie sich die Darbietungen der letzten 10 bis 20 Jahre voneinander unterscheiden. Die Edition gibt auf diese Fragen vielfältig und durchaus auch verwirrend Auskunft. Zunächst gilt es zu bedenken, daß die Ton- und Klangqualität der frühen Aufnahmen – aber auch noch etlicher aus den 50er und den frühen 60er Jahren – sehr beschnitten, sehr holzig und räumlich eingeengt wirkt. Es scheint mir bei der Straußischen Musik ähnlich wie bei Mahler und Richard Strauß zu funktionieren. Eine klangrealistische, also dynamisch weite und farbechte Reproduktion bleibt unverzichtbare Grundlage für die Übermittlung interpretatorischer Akzente. Die großen Alten wie Clemens Krauss oder Erich Kleiber mochten da noch so schwingend und umgangssprachlich eingeweiht die schweren und leichten Betonungen aus dem Orchester herauskitzeln, das akustische Gesamterscheinungsbild wirkt recht schmächtig, ja allzu oft zu ausgedünnt. Natürlich spielten die Wiener Philharmoniker in den 20er und 30er Jahren nicht annähernd so präzis zusammen wie heute. Vieles ergab sich im Bemühen um Kongruenz aus den Erfordernissen des nicht-reproduzierbaren Erlebens, wie es seit Generationen die Musizierpraxis bestimmt hatte. Man fühlte als Allianz, aber man agierte nicht in steriler Unisonität. In den späteren Jahrzehnten füllte sich – zumindest auf Tonträgern – das Klangbild auf. Rundungen, Kurven und Schwünge vor allem der Walzer-Stücke kamen seidiger und wenn es sein mußte auch wuchtiger. Dennoch bleibt es überraschend, wie musikalisch intensiv und klangbildnerisch fortschrittlich sich schon die frühen Karajan-Einspielungen ausnehmen. Auf CD 10 machen das zwei Interpretationen deutlich, die 1957 und 1959 aufgezeichnet worden sind. Krips dirigierte 1957 den Donauwalzer – forsch und federnd zugleich, insgesamt mit energischem sinfonischen Absolutheitsanspruch –, aber die Wiener klingen in ihrem kolonstischen Wirkungsgrad doch sehr beschnitten. Danach die Fledermaus-Ouvertüre in einer Aufführung unter Herbert von Karajan! Mit einem Mal weiß man wieder, wie ein großes, stolzes Orchester in natura tönt und pulsiert. Nur unter Carlos Kleiber habe ich diese geniale Operetten-Introduktion auf ähnliche Weise differenziert, überschwenglich, ätzend und bitter-süß vernommen wie hier 1959 unter Karajan!
Die Kassette enthält eine Menge aus dem Fundus der Neujahrskonzerte mit Mehta, Muti, Maazel und Abbado, wobei sich tüchtige, inspirierte Deutungen mit routinierten und massenkonfektionistischen die Waage halten. Das weltweite Geschäft mit der Ware Strauß und mit dem Neujahrskonzert hat natürlich nicht nur Spuren an und in der Geldbörse hinterlassen, sondern auch in der Physiognomie der einzelnen, wohlvertrauten Stücke. Besonders unter Mehta kommen und gehen sie für mein Empfinden, ohne echte Spuren zu hinterlassen. Verdienterweise wurden auch eine Fülle von Boskovsky-Aufnahmen miteinbezo-gen, der als geigender Dirigent für viele Jahre die Strauß-Interpretation der Wiener Philharmoniker auf seine Person fokusierte – und maßgebend die Erfolgsgeschichte der Neujahrskonzerte zu schreiben half. Ein Decca-Doppelalbum mit philharmonischen Aufnahmen wird parallel zur Jubiläums-Edition 1999 gerade angekündigt. Sie liegt mir kurz vor Drucklegung dieses Heftes noch nicht vor, aber man darf davon ausgehen, daß es vom Repertoire her gewisse Überschneidungen zwischen den beiden Veröffentlichungen gibt. Am Ende gibt es eine ergötzliche Parade von Radetzky-Märschen unter der Leitung von Krauss, Knappertsbusch, Boskovsky, Maazel, von Karajan, Abbado, Muti und Mehta. Die Älteren dirigierten das militärische Klang- und Bewegungsjuwel eine Spur rascher als die Jüngeren ab Maazel 1986.
Die Strauß-Initiativen des auslaufenden Jahres 1998 hielten sich, soweit ich die Situation überblicke, in Grenzen. Harnoncourts ernsthafte, problematisierende Teldec-Einspielung des Zigeunerbarons liegt schon etwas weiter zurück, und auch Gardiners Wiener DG-Version der Lustigen Witwe kann man nicht mehr zum Jubiläumsjahr-Katalog rechnen. So sind es eher Initiativen am Rande der großen philharmonischen Szene, die empfeh- lenswert sind oder bedenklich anmuten. Als die wohl rühmlichste Strauß-Tat möchte ich Konstantin Scherbakovs EMI-Debüt-CD mit Klavierbearbeitungen von Walzern, Polkas und Operettenthemen hervorheben, die nicht nur einen superbrillanten Pianisten zum Vorschein bringen, sondern auch die ganze Palette klavieristischer Strauß-Verehrung und -Verklärung. Scherbakov spielt begeisternd, technisch atemberaubend, aber ohne jede Übertreibung in der dramaturgischen Gesamt- und Detailanlage. Er handhabt die bekannten Themen mit einer Selbstverständlichkeit, wie sie auch für das – gleichwohl intimere – Spiel des Ensemble Wien in Quartettbesetzung charakteristisch ist.
Mit sicherem Instinkt für das Straußische Geben und Nehmen in der musikalischen Dosierung gibt ein Strauß- Festival-Orchestra Vienna unter der Leitung von Peter Guth ein buntes Operettenprogramm. Nicht alles, was hier über die imaginäre Rampe kommt, ist instrumental problembereinigt, aber es atmet jene Sachvertrautheit, wie sie auch für die Operettenaufnahmen unter Max Schönherr und unter Robert Stolz (auf Decca) verbürgt ist. Daß die Sopranistin Gabriele Fontana auf der Guth-CD mit starkem Vibrato und etwas angeschimmelten Timbre für Jugend und Leidenschaft wirbt, mag man ebenso hingehen lassen, wie die aufgeregten, post-rassigen Vokalbeiträge mancher ihrer ostdeutschen Kolleginnen.
Sie agieren auf einer kulturgeschichtlich interessanten Doppel-CD-Ausgabe mit Einspielungen aus der ehemaligen DDR. Kempe und die Dresdner Staatskapelle spielen rein orchestral die Luxusrollen, während die zweitrangigen Orchester aus Berlin, Leipzig und Dresden die Operettenhandlungen bald grob, bald liebenswert voranbringen.
Peter Cossé
Diskographie
* Wiener Philharmoniker – Johann Strauß – Jubiläums-Edition 1999 – Clemens Krauss, Erich Kleiber, George Szell, Bruno Walter, Wilhelm Furtwängler, Hans Knappertsbusch, Josef Krips, Karl Böhm, Herbert von Karajan, Willy Boskovsky, Lorin Maazel, Claudio Abbado, Zubin Mehta, Riccardo Muti; DG 459 734-2 (1 CD)
* Strauß J. u. J u.a. – Walzer, Polkas und Märsche: Wiener Philharmoniker. Willi Boskovsky; Decca 458 367-2 (2 CD)
* Klaviertranskriptionen von Werken von Johann Strauß II – Improvisationen über „An der schönen blauen Donau“ (Reger), Soirée de Vienne op. 56, Kaiser-Walzer (Grünfeld) u.a.: Konstantin Scherbakov (Klavier); EMI 5 69704 2
* Lippen schweigen – Ausschnitte aus „Die Fledermaus“, „Der Zigeunerbaron“ (Strauß II), „Der Bettelstudent“ (Millöcker), „Die Csárdásfürstin“ (Kálmán). „Die lustige Witwe“ (Lehár). „Der Vetter aus Dingsda“ (Künneke) u.a.; Sylvia Geszty, Peter Schreier, Eberhard Büchner, Wolfgang Hellmich u.a.; Staatskapelle Dresden, Dresdner Philharmonie, Rundfunk-Sinfonie-Orchester Leipzig u.a.; Rudolf Kempe, Heinz Rögner, Günther Herbig und andere; ART 0029662 (2 CDs)
* Wine, Women & Song – Discover the Magic of Viennese Operetta – Strauß II, Ouvertüre zu „Eine Nacht in Venedig“, Banditen-Galopp, Wein, Weib und Gesang u.a.; Ziehrer, Liebe schöne alte Donaustadt; Stolz, Du sollst der Kaiser meiner Seele sein, Spiel auf deiner Geige; Lehár, Zwanzinette; Josef Strauß, Ohne Sorgen; Kálmán, Höre ich Zigeunergeigen; Gabriele Fontana; Strauß Festival Orchestra Vienna, Peter Guth; Discover DICD 920532
* Die Walzerkönige Vol l – Werke von Johann Strauß Vater und Sohn, Josef und Eduard Strauß, Offenbach, Gung´l, Fahrbach, August und Josef Lanner und Ziehrer: Ensemble Wien; Koch 3-6525-2
* Johann Strauß Konzert-Gala – Ouvertüre „Der Zigeunerbaron“, Perpetuum mobile,
G’schichten aus dem Wienerwald, Ouvertüre zu „Die Fledermaus“ und anderes; Lehár, „Meine Lippen, sie küssen so heiß“ aus „Giuditta“ u.a.; Helga Graczoll, Richard Brunner; Das Internationale Johann Strauß Orchester, Erich Binder; RCA / BMG 74321 52608 2
* Johann und Josef Strauß – Walzer, Polkas und Märsche, G’schichten aus dem Wienerwald, Auf der Jagd, Ägyptischer Marsch, Pizzicato-Polka, Unter Donner und Blitz u.a.: Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan: DG 449 768-2