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Liebesaffäre und Suchtstoff

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Leopold Stokowski dirigiert die Sinfonieorchester des SWR
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Leopold Stokowski dirigiert die Sinfonieorchester des SWR. Werke von Boris Blacher, Werner Egk, Darius Milhaud, Pjotr Tschaikowsky, Richard Wagner, Sergej Prokofiev und Modest Mussorgsky; Hänssler Classics 94204 (2 CDs; Vertrieb: Naxos)

72-jährig kam Leopold Stokowski 1954 erstmals nach Baden-Baden, um Hans Rosbauds Sinfonieorchester des Südwestfunks zu dirigieren, diesen wie wenige andere auf die zeitgenössische Musik eingeschworenen Klangkörper. Und sofort ist alle Trockenheit aus der Darbietung weggezaubert, alles klingt, schwingt, und dringt, wo geboten, mit aller Vehemenz und Schroffheit ans Ohr, doch immer mitten aus dem Nervensystem der Musik. Welche weiteren Stokowski-Schätze das SWR-Archiv auch noch beherbergen mag, die hier vorgestellten sind durchgehend höchsten Ranges.

Boris Blachers Paganini-Variationen, damals in Deutschland ein Reißer des modernen Repertoires und für Stokowski eine Novität, werden mit einer Sensitivität und drängenden Schlagkraft dargeboten, die die exzellente Studio-Referenz Fricsays in den Schatten stellt und lediglich von Celibidaches dämonisch überwältigender Realisierung (RSO Köln bei Orfeo) überragt wird. Grandios auch die drei innigen ‚Romeo und Julia’-Schicksalstücke Prokofievs und Darius Milhauds kleines Schlagzeugkonzert, das mit dem Solisten Werner Grabinger in subtilst ausgehörter Nuancierung und rhythmischer Leichtigkeit zum Rang eines zeitlosen Meisterwerks aufläuft. Und wohl der Höhepunkt dieser Galerie der neuen Musik ist die Französische Suite nach Rameau von Werner Egk, die in dem Magier Stokowski einen Geistesverwandten fand.

Alle fünf entzückenden Sätze, die französische Eleganz mit veredelt bajuwarischer Querköpfigkeit auf so raffiniert-kapriziöse wie duftig-gourmethafte Weise verschmelzen, erstehen in einer Größe und Feinsinnigkeit, die sie Strawinsky oder Roussel ebenbürtig erscheinen lassen. Ein singulärer Glücksfall, und wer gerne Egk von seiner besten Seite kennenlernen möchte, hat hier Gelegenheit zu einer kleinen Liebesaffäre. Beim Sinfonieorchester des Süddeutschen Rundfunks in Stuttgart gastierte Stokowski mit einem seiner typischen Programme, und auch dieses Orchester hat – außer unter Celibidache – fast nie so herrlich geklungen.

Wagners Vorspiel und Liebestod aus ‚Tristan und Isolde’ entfaltet in dichtester, klanglich berückender Gestaltungskunst immense Leidenschaft, und die Verklärung des Endes dürfte wieder viele bedauern lassen, dass Stokowski zeitlebens das Genre Oper links liegen ließ. Von archaisch dunkler Pracht und Erhabenheit ist das Intermezzo aus Mussorgskys Chowantschina durchdrungen, das auch in der Orchestration Stokowskis suggestive Handschrift trägt. Und bei Tschaikowsky kommt eine solche Lebendigkeit, die jede Faser der Musik durchdringt, eine solche Authentizität, Elastizität und verfeinerte Kraft zum Ausdruck, dass man der Legende Glauben schenken möchte, es habe seinerzeit ‚Stokowski-Süchtige’ gegeben, die regelmäßig einen neuen Schuss brauchten, um ihr Gemüt mit magischen Klängen aufzufrischen – es gibt sie auch heute noch und wird sie, bei solchem tönenden Vermächtnis, immer geben…

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