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Neues und Seltenes von Miles & Trane

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Jazzneuheiten, vorgestellt von Marcus Woelfle
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Wie Jeanne Moreau durch das nächtliche Paris irrt, den Geliebten sucht, der für sie zum Mörder wurde, wie sie hofft und bangt, Selbstgespräche führt, das hat sich ins kollektive Unbewusste eingegraben, das machte sie zum Star – doch vermutlich hätte man diese Szenen des Films „Fahrstuhl zum Schafott“ längst vergessen, hätte nicht Miles Davis dazu Musik geschaffen, die an die Nieren geht, auch wenn man die Bilder nicht sieht.

Louis Malle, der Regisseur von „Ascenseur pour l’échafaud“ erinnert sich: „Was er machte, war einfach verblüffend. Er verwandelte den Film. Ich erinnere mich, wie er ohne Musik wirkte; als wir die Tonmischung fertig hatten und die Musik hinzufügten, schien der Film plötzlich brillant.“ Dabei war Davis’ Beitrag ursprünglich gar nicht vorgesehen. Er war nur eben in Paris, als der Regisseur mit der vorhandenen Filmmusik unzufrieden war. Etwas im eigentlichen Sinne zu komponieren, hatte der Trompeter auch keine Lust. Er ließ sich den Film vorführen, machte ein paar Notizen und improvisierte mit seinen Kollegen, die sich nur auf Intuition und Ohren verließen, in einer Nacht des Jahres 1957 den Soundtrack – ein Verfahren, das zur Zeit von Miles’ Geburt noch üblich war, aber mit dem Tonfilm ausgestorben war. Dabei war das nicht einmal sein reguläres Quintett, sondern eine französische Begleitmannschaft (Barney Wilen, René Urtreger, Pierre Michelot und – ein alter Gefährte – Kenny Clarke, der Vater des modernen Schlagzugspiels). Jazzgeschichtlich von Bedeutung: Die Antizipation des modalen Jazz, der sich erst 1959 durch Davis’ „Kind Of Blue“ durchsetzte. Es ist die wohl bekannteste Filmmusik der Jazzgeschichte; die jahrzehntelange Assoziation von Jazz als Begleitmusik für Leinwandverbrechen wurde damit auch festgeschrieben. Der ursprünglich eher kurze Soundtrack ist ein nicht vorstellungsbedürftiges Kultalbum, aber das Doppelalbum mit allen bis damals aufgenommen Tracks ein besonderer Leckerbissen. (Fontana)

Als Miles Davis 1960 nach Europa kam, hatte er endlich seine eigenen Musiker dabei – ein Zeichen, dass er nunmehr ein internationaler Star war. Doch eher missmutig absolvierte John Coltrane 1960 diese Tournee mit dem Trompeter und mürrisch klingt er bisweilen auch auf seinen letzten Auftritten als Sideman; danach trennten sich ihre Wege (sieht man von einem Studioalbum des Jahres 1961 ab). Ob er wütend ist, fragt ihn ein schwedischer Deejay in einem Interview, das sich als Zugabe auf „The Final Tour“, Vol. 6 der „Bootleg Series”, findet, das die Konzerte von Paris, Kopenhagen und Stockholm vereint. Nein, meint Trane, es klinge vielleicht so, weil er so viele Sachen auf einmal ausprobiere. In der Tat experimentiert er hier auf offener Bühne; seine rasenden „sheets of sound“ und vor allem die dissonanten „multiphonics“ lassen europäische Hörer ratlos zurück, die ihren Unwillen schon mal laut bekunden. Der spannungsreiche Kontrast zwischen Essenz und Eloquenz, zwischen den cool geblasenen Trompetentönen und den ultrahocherhitzten Improvisationen Tranes, die einst den Reiz des Miles Davis Quintetts ausgemacht hatten, war zu groß geworden. Es ist als hörten wir hier nicht eine Band, sondern zwei, die zufällig mit den gleichen Musikern besetzt ist (Wynton Kelly, Paul Chambers, Jimmy Cobb). Doch auch das hat seine Reize. (Sony)

Von einem anderen Kontrast kündet der Titel „Both Directions At Once: The Lost Album”, das 1963 sorgfältig produziert, dann vergessen wurde und sich nur durch den Zufall erhalten hat, da sich eine Mono-Kopie in Familienbesitz befand. Gemeint ist der Versuch von Coltranes Plattenfirma Impulse! zweigleisig zu fahren, einerseits wagemutige, in die Zukunft weisende Coltrane-Werke zu veröffentlichen, andererseits Alben die ein breiteres Publikum ansprechen konnten wie „Ballads“ oder das Album mit dem Sänger Johnny Hartman, das zufällig am nächsten Tag produziert wurde. In dieser Trouvaille erleben wir beides: Songs wie „Nature Boy“ oder ein munteres Liedchen aus der „Lustigen Witwe“, andererseits Originals, denen er keinen Namen mehr gab. Man hat die Bedeutung des Albums übertrieben und es in ehrfürchtiger Entdeckerfreude zum „Heiligen Gral“ stilisiert. Wir erleben hier aber das John Coltrane Quartet (McCoy Tyner, Jimmy Garrison, Elvin Jones) weniger inspiriert als in den längst zu Klassikern gewordenen Alben jener Tage und manches Stück legte er in definitiveren Versionen vor. (Impulse!) 

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