Unzählige Schätze schlummern in Archiven und obwohl deren Wert bekannt ist (und wenn nicht gerade eine Panne passiert wie die Löschung mehrerer Dexter Gordon-Konzerte beim dänischen Rundfunk), vergehen oft Jahrzehnte, bevor sie jemand herausbringt. Denn ein finanzielles Risiko ist dies sogar bei Großmeistern des Jazz. Der Markt scheint dafür zu klein zu sein und doch werden immer wieder für diesen wichtigen, ja unerlässlichen Zweck beherzt Labels gegründet.
Mit „Swingin’ in Seattle“ gelang dem neuen Label Reel To Real mit der ersten Veröffentlichung ein Paukenschlag. Das Album enthält eine Blütenlese von Live-Aufnahmen des Altisten Cannonball Adderley aus dem Lokale Penthouse in Seattle, der dort 1966 und 1967 öfter mit Nat Adderley (cn), Joe Zawinul (p), Victor Gaskin (b) und Roy McCurdy (d) auftrat, also in der gleichen Zeit als die gleiche Band das epochale Live-Album „Mercy, Mercy, Mercy!“ einspielte. Sie stammen aus dem Besitz des Jazz DJ Jim Wilke, der sie für seinen Sender KING-FM archivierte. Es scheint sich nur um eine kleine Auswahl aus seinem Cannonball-Fundus zu handeln und wir wollen hier nicht so naiv sein zu fragen, warum nicht das ganze Material veröffentlicht wird. Die Kriterien für die Auswahl scheinen klar. Die CD vereint Stücke, die Cannonball sonst in kürzerer Version (Hippodelphia), mit einem kommerziellen Arrangement (Somewhere) oder überhaupt nicht (Blues For Alice) aufgenommen hat. Man bekommt also hier nicht etwas, was man schon in besserer Form vom beliebten und beleibten Altsaxophonisten kennt. Sowohl die auf eine Auflage von 200 Stück beschränkte Doppel-LP als auch die CD bestechen mit ihrer liebevollen Aufmachung: Seltene Fotos und Interviews mit allen erdenklichen Persönlichkeiten von Victor Gaskin zu Adderleys Witwe runden ein großes Hörvergnügen ab. Cannonballs jubilierend-quirlige Spielweise gehörte zu den vergnüglichsten der Jazzgeschichte, ein unwiderstehlich mitreißendes Gebräu aus komplexen und einfachen Ingredienzien. (Reel To Real)
Zugleich mit der Cannonball-Trouvaille veröffentlichte das neue Label den Titel „A Soulful Sunday“ von Etta Jones in Baltimore aus dem Jahr 1972, einer Zeit, in der die Sängerin, die in den frühen 60er-Jahren große Erfolge gehabt hatte, vorübergehend vergessen war. Mit ihrem starken Blues-Einschlag und ihrem ausdrucksvollen Gesangsstil, der das Feeling von Billie Holiday mit dem Biss von Dinah Washington verband, gehörte die Sängerin zu den großen, doch unterschätzten Vokalistinnen des Jazz, auch wenn ihre nasale Stimme und ihre persönliche Auffassung der Intonation nicht jedermanns Sache sein mögen. Hinreißend begleitet wurde sie von Cedar Walton (p), Sam Jones (b) und Billy Higgins (d). (Reel To Real)
Keine Frage, das Comeback (eher noch: der erste richtige Durchbruch) der Betty Carter in den letzten Jahren vor ihrem Tod (1998) war wohlverdient. Das Geschick belohnte eine Unorthodoxe, die nicht kommerziell klingen konnte, selbst wo sie es gewollt hätte. Eine, die kein cooles Sexpüppchen war, sondern ihr Gesicht schon mal zu unglaublichen Grimassen verzog, um Klänge zu erzeugen, die man sonst selten zu hören bekam. „The Music Never Stops“, ein Konzert im New Yorker Lincoln Center von 1992, auf dem sie von Combo, Big Band und Streichern begleitet wurde, hält einen Höhepunkt während dieser Zeit fest. Ihr seltsam verquerer Gesang verwandelte altbekannte Melodien bis zur Unkenntlichkeit in ganz persönliche, berückende Statements. Kein noch so altehrwürdiger Standard war vor ihrem unorthodoxen Zugriff, ihrer enorm wendigen, gleichsam instrumentalen Stimme und ihren unglaublichsten metrischen Verschiebungen sicher. Bisweilen befindet sie sich an einer anderen Stelle des Songs als die Band. Ob man heute ahnt wie befremdend ihr Gesang damals noch wirkte? Mit einem ähnlichen Programm habe ich sie in jenen Tagen erlebt und sah beschämt zu, dass viele Besucher damals fluchtartig das Weite suchten. Zu Recht wurde dieses Album als Highlight der Gesangkunst vom Preis der deutschen Schallplattenkritik auf die Bestenliste gesetzt. (Blue Engine)