Knapp 200 Jahre nach der Veröffentlichung von Beethovens letzter Klaviersonate op. 111 ist das Interesse an dessen Sonaten ungebrochen. Pianisten, Musikwissenschaftler und Hörer stellen sich immer wieder aufs Neue den ungeheuren Herausforderungen der einzelnen Sonaten wie auch des Gesamtgebäudes der 32 Meisterwerke. Und ganz offensichtlich ist auch nach Vorliegen der Zyklen eines Schnabel, Kempff, Arrau, Gulda, Brendel oder Goode noch längst nicht alles zu diesen Werken gesagt worden. Denn neben einer nicht enden wollenden Flut von Einzelaufnahmen erleben wir zur Zeit einen Boom von gleichzeitig he-ranwachsenden Gesamtaufnahmen, die in ihrer künstlerischen Qualität – das lässt sich schon jetzt sagen – hinter den alten Referenzeinspielungen nicht zurückstehen müssen.
Andras Schiff, der junge Brendel-Schüler Paul Lewis, Gerhard Oppitz und der seit einigen Jahren mit einer späten Karriere überraschende Michael Korstick legen zur Zeit im Abstand von jeweils einigen Monaten eine neue CD vor, was nun – nach Veröffentlichung eines guten Teils der Sonaten – Anlaß und Gelegenheit gibt, eine erste Zwischenbilanz zu ziehen. Einzig das Korstick-Projekt bei Oehms Classics hängt derzeit noch bei den Sonaten op. 2 – im Mai allerdings soll es dann weitergehen. Auch der noch sehr junge Russe Igor Tchetuev hat ein Vol. 1 vorgelegt. Und dann noch eine Entdeckung: Die russische Pianistin Maria Grinberg, deren Gesamteinspielung schon jetzt zu den diskographischen Highlights des Jahres gehören dürfte. Übrigens scheinen auch die Kanadierin Angela Hewitt sowie die Münchnerin Mari Kodama eine Aufnahme des Zyklus zu planen. Last but not least muss die spannende und wohl erste wirklich wegweisende Fortepiano-Gesamtaufnahme des Niederländers Ronald Brautigam beachtet werden, die hier aus Platzgründen aber ebenfalls lediglich erwähnt sei.
Wie also nähern sich diese Damen und Herren dem „Neuen Testament“ der Klavierliteratur? Eines kann zunächst klar festgestellt werden: Das pianistische und musikalische Niveau ist bei allen erwartungsgemäß hoch, ansonsten aber geht es kaum unterschiedlicher. Und das macht den Vergleich denn auch wirklich hoch spannend, zumal die Aufnahmen von Andras Schiff und Gerhard Oppitz ungefähr im gleichen Abstand und mit den gleichen Sonaten erschienen sind. Der direkte Vergleich zeigt allerdings, dass zwischen beiden Ansätzen doch musikalische Welten liegen. Nehmen wir einmal die sogenannte „kleine“ c-Moll-Sonate op. 10 Nr. 1. Oppitz geht an dieses deutlich unterschätzte Werk sehr frisch und jugendlich heran, lässt den Hörer allein schon durch sein extremes Tempo und die auch durch die Aufnahmetechnik unterstützte ausgeprägte Dynamik gerade in den Ecksätzen ein wenig von dem Schock verspüren, den die Zuhörer anno 1791 erlebt haben mussten – und der wohl auch vom Komponisten beabsichtigt war. Sein Kollege Schiff hingegen nimmt weniger die Tempoangabe ernst, als vielmehr die zahllosen Vortragszeichen und die Mikrostruktur dieser Sonate. Diese lässt er uns denn auch hören, wie es noch kein anderer, selbst der im Umgang mit dem Notentext äußerst penible Claudio Arrau nicht, getan hat. Da werden plötzlich Nebenstimmen und Bassverläufe, Akzente und Schattierungen hörbar, die man so noch nie wahrnehmen konnte und die dem Zuhörer durchaus zu neuen Einsichten verhelfen. Es stellt sich aber grundsätzlich die Frage, ob ein solch perfektes, absolut makelloses, oft – gerade in den langsamen Sätzen wird das schmerzlich spürbar – leider auch zu distanziertes Klavierspiel wirklich den beethovenschen Intentionen gerecht wird. Bei manchen der frühen Sonaten ist dieser Ansatz sicher noch vertretbar (in der F-Dur Sonate op. 10 Nr. 2 sogar überzeugend), generell aber wünscht man sich doch ein wenig mehr Beethovens Atem und ein gewisses Zupacken. Aber: Man hört diese (Live-) Aufnahmen mit großer Spannung, voller Bewunderung vor einem überragenden Klavierspiel – und lernt die Sonaten, auch mit Hilfe eines überragenden Booklet-Textes inklusive eines höchst lesenswerten Gesprächs zwischen Andras Schiff und Martin Meyer, letztlich doch von einer bisher unbekannten Seite kennen. In dieser Form als Beethoven für Fortgeschrittene sehr zu empfehlen.
Ganz anders der Ansatz des Kempff-Schülers Gerhard Oppitz. Gerade für jemanden, der mit den Sonaten nicht oder kaum vertraut ist, dürfte seine doch eher traditionelle Sichtweise die richtige sein. Oppitz spielt mit einer – bei Schiff leider kaum zu spürenden – großen Lebendigkeit, kraftvoll, erzmusikantisch und mit großem Bogen. Alles ist im besten Sinne wunderbar richtig, denn wir erleben ein zum Kern der Sache vorstoßendes Klavierspiel. Den Eingangssatz der großen Sonate op. 7 etwa spielt er mit großem Zug und Impetus, die Musik entwickelt sich großräumig, strömt im breiten Fluss dahin. So muss es sein. Der dritte und der vierte Satz sind hier, wie auch manche andere Sätze der frühen Sonaten, vielleicht etwas zu erdenschwer geraten. Kollege Schiff wiederum nimmt diese Sätze – was ihnen hier gut bekommt – mit ungleich größerer Leichtigkeit und Durchsichtigkeit. Besonders überzeugend gelungen aber sind dann die Sonaten ab op. 26. Man höre nur einmal das Finale des op. 28, das nicht oft so schwebend im Klang ausmusiziert wird. Oder den ersten Satz des op. 31 Nr. 1, dessen stürmischer Impetus den Satz neu erfahren lässt. Auch das Scherzo etwa aus op. 31 Nr. 3 ist so präzise gespielt selten zu hören, der ungeheure Witz des Stückes kommt auf diese Weise jedenfalls mit größter Klarheit heraus. Das Oppitz-Projekt wird also noch sehr spannend werden.
Eine gewisse Mittelstellung nimmt hier Paul Lewis ein. Sein perfekt ausbalanciertes Spiel erinnert sehr an das Spiel seines Mentors Brendel, er nimmt überwiegend gemäßigte Tempi, gibt den Emotionen einen gebührenden, aber stets im klassischen Rahmen bleibenden Raum und vermag es schließlich, die Sonaten mit einer souveränen Überlegenheit zu gestalten, wie es bei einem Pianisten seines Alters kaum zu erwarten ist. Bei ihm hat man – nur bei den großen Alten war das im Grunde der Fall – nach dem Hören der Sonate das Gefühl, dass das Werk als Ganzes auf einer anderen Ebene noch lange weiter wirkt. Das muss man erst mal können! Beispielhaft dafür ist etwa die oft viel zu sehr als Virtuosenstück mißbrauchte Waldsteinsonate, die in Wirklichkeit ja eine Sonate der pianissimo-Superlative ist. Wie Lewis den Hörer hier trotz (oder gerade wegen?) sehr ruhiger Tempi und durch sein – da wiederum an Brendel erinnerndes – wirklich sprechendes Spiel dieses Werk und gerade den kurzen Mittelsatz neu entdecken lässt, ist ein gestalterisches und klangliches Wunder. Enttäuschend allerdings die berüchtigte Fuge der Hammerklaviersonate, die einfach zu ruhig und unaufgeregt klingt und die ansonsten beeindruckende Gesamtdarstellung des Riesenwerkes damit letztlich abwertet. Denn auch bei dem von Lewis hier angeschlagenen recht mäßigen Tempo sollte der „Strom kochender Lava“ (Jürgen Uhde) durchaus hörbar sein, Gilels (vor allem in seiner russischen Aufnahme) hat das beeindruckend vorgemacht. Trotzdem: Mit diesen Aufnahmen hat sich Lewis schon jetzt in den Olymp der Beethoven-Interpreten gespielt.
Der erst in den letzten Jahren bekannt gewordene Michael Korstick wiederum ist ein Pianist der Extreme und damit in gewisser Weise Antipode zu Andras Schiff. Auch wenn bislang nur die Trias des op. 2 in der Neuaufnahme vorliegt, kann man schon jetzt sagen, dass sein glasklares, brillantes und kraftvolles Klavierspiel bei Beethoven Maßstäbe setzen wird. Korsticks enormer Drive, seine Präzision, gleichzeitig aber auch seine Versenkungskraft und Intensität in den langsamen Sätzen sind bewundernswert. Korstick verbindet damit vielleicht die Vorzüge eines Gulda mit denen eines Arrau oder Barenboim. Allerdings muss man die weiteren Folgen abwarten, in zwei älteren Ars-Musici-Aufnahmen einiger Sonaten nämlich wirken sich die extremen Tempi nicht immer positiv auf das Geschehen aus – die Hammerklavierfuge etwa wirkt, so widersprüchlich es klingt, durch das allzu perfekte Spiel auch in rasendem Tempo doch sehr glatt und damit fast ein wenig objektivierend-harmlos. Hier ist ebenfalls von „kochender Lava“ kaum etwas zu spüren. Korstick ist einem Gulda, der ebenfalls die frühen Sonaten überzeugender meisterte als die späteren, vielleicht auch hier nahe. Aber: Es folgen noch 29 Sonaten.
Im Vergleich mit diesen pianistischen Großtaten hat es der junge – mit 26 Jahren vielleicht noch zu junge – Igor Tchetuev merklich schwer. Sein Beethoven (hier op. 10 Nr. 3, die Appassionata und die Les-Adieux-Sonate) bleibt bei aller pianistischen Perfektion und auch musikalischen „Richtigkeit“ noch zu blaß, zu unpersönlich. Es passiert einfach zu wenig. Dafür aber hören wir den russisch-romantischen Zugriff, einen wunderbar vollen Klavierton, unterstützt durch eine meisterhafte Aufnahmetechnik. Die gewisse Sterilität in der Aussage kann damit aber nicht aufgewogen werden. Trotzdem, auch dieser Ansatz findet im Kanon der Gesamtaufnahmen durchaus seinen Platz – und Tchetuev wird im Laufe der Aufnahmen sicher noch an Persönlichkeit dazugewinnen. Man muss auch dieses Projekt also weiter verfolgen.
Warum eigentlich gibt es von weiblichen Pianisten bislang nur ganz wenige Gesamtaufnahmen der Sonaten? Außer Annie Fischer und der dänischen Pianistin Anne Oland haben sich in der Vergangenheit offensichtlich noch keine Pianistinnen an eine Aufnahme dieses Gesamtzyklus´ gewagt. Außer Maria Grinberg. Vor vierzig Jahren hat diese hierzulande völlig unbekannte russische Pianistin den Zyklus komplett aufgenommen, der Veröffentlichung hierzulande harren zur Zeit nur noch die späten Sonaten op. 101 bis 111. Das nun auch auf CD (Melodiya/Codaex) zugängliche Ergebnis ist schlichtweg überwältigend. Es wirkt ein wenig wie eine Synthese aller Vorzüge der eben genannten Aufnahmen. Grinbergs Spiel ist zugleich äußerst kraftvoll, (der Ton hat Edelmetall im Kern, wie es letztlich doch nur die Russen zustande bringen), poetisch, durchdacht, ausgewogen, detailgetreuund verfügt zudem über eine gestalterische Reife, die sich nur nach langer Beschäftigung mit diesen Werken erreichen lässt. Wie Maria Grinberg, hier als Antipodin zu Paul Lewis, etwa durch die Waldsteinsonate stürmt, ist so bislang nicht zu hören gewesen. Sie nimmt, besonders im letzten Satz, extrem zügige Tempi, lässt den Satz aber trotzdem nicht einfach unsensibel vorbeirasen, sondern bleibt – das ist große Kunst – stets im klassischen Ebenmaß. Das alles ist großes Klavierspiel, auch wenn natürlich nicht alle Sonaten in gleichem Maße gelungen sind. Aber bei wem ist das schon der Fall? Maria Grinberg zeigt jedenfalls, dass der Beethovensche Sonatenkosmos auch als Gesamtwerk keine Domäne männlichen Klavierspiels ist.
Diskographie
Andras Schiff
Vol. 1: op. 2, op. 7 – ECM 1940/41
Vol. 2: op. 10, op. 13 – ECM 1942
Vol. 3: op.14, op. 22, op. 49 – ECM 1943Gerhard Oppitz
Vol. 1: op. 10, op. 13 – hänssler Classics CD 98.201
Vol. 2: op. 2 – CD 98.202
Vol. 3: op. 7, op 14, op. 49 – CD 98.203
Vol. 4: op. 26, op. 27, op. 28 – CD 98.204
Vol. 5: op. 31 – CD 98.205
Vol. 1: op. 31 – HMC 901902
Vol. 2: op. 13, op. 14, op. 22, op. 53, op. 78, op. 79, op. 90, op. 101, op. 106 – HMC 901903.05Michael Korstick
Vol. 1 op. 2 – Oehms Classics OC 615 SACDIgor Tchetuev
Vol. 1 op. 10 Nr. 3, op. 57, op. 81a – Caro Mitis CM 0042005 Vertrieb Klassik-Center SACDMaria Grinberg
Vol. 1: op. 2 – Melodya MEL CD 1000823 Vertrieb: Codaex
Vol. 2: op. 7, op. 10 Nr. 1 und 2 – MEL CD 1000824
Vol. 3: op. 10 Nr. 3, op. 13, op. 14 – MEL CD 1000825
Vol. 4: op. 22, op. 26, op. 27 – MEL CD 1000826
Vol. 5: op. 28, op. 31 Nr. 1 und 2 – MEL CD 1000827
Vol. 6: op. 31. Nr. 3, op. 49, op. 53, op. 54 – MEL CD 1000828
Vol. 7: op. 57, op. 79, op. 79, op. 81a, op. 90 – MEL CD 1000829