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Provokation West, Widerstand Ost

Untertitel
Neue Musik auf neuen CDs, vorgestellt von Max Nyffeler
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Neue Musik von Galina Ustvolskaya, Hugues Dufourt, Peter Maxwell Davies, Harrison Birtwistle in neuen Aufnahmen.

Harrison Birtwistle und Peter Maxwell Davies, die zwei prägenden Figuren der englischen Gegenwartsmusik, sind beide in diesem Jahr achtzig Jahre alt geworden, was die CD-Produzenten zu einer Reihe von Neuerscheinungen animiert hat. Ein Schwergewicht bilden die sechs Chorwerke von Harrison Birtwistle mit dem Bariton Roderick Williams, den BBC Singers und dem Nash Ensemble unter Nicholas Kok. In den zwischen 1965 und 2012 entstandenen Stücken nähert sich Birtwistle religiösen Themenkreisen aus einer dezidiert säkularen Perspektive. Das titelgebende „Moth Requiem“ ist ein Abgesang auf einen Nachtfalter, der im geschlossenen Flügel unter Hervorbringung wunderlicher Klänge sein Ende fand. Den Kern bilden zwei kantable Chorsätze zu Ostern und Weihnachten. Sie werden flankiert von drei lateinischen Motetten und weiteren, teils dramatischen Chorstücken, die Birtwistles überragende Kreativität im Umgang mit der menschlichen Stimme demonstrieren. Komplex geschichtete Strukturen stehen neben wohlklingenden Chorsätzen und fantastischen Mixturklängen, die zu weiten Melodiebögen geformt werden. An die Interpreten stellt das höchste Anforderungen. (Signum Classics SIGCD 368)

Bei der jüngsten CD von Peter Maxwell Davies handelt es sich um die Wiederveröffentlichung einer Aufnahme von 1994 mit dem sieben Jahre zuvor in Darmstadt uraufgeführten Musiktheaterwerk „Resurrection“. Das bereits in den sechziger Jahren konzipierte Stück ist eine monströse Bühnenfantasie, ein moralkritischer Rundumschlag mit hohem Provokationspotenzial. Im Zentrum steht ein sozialer Versager, der durch eine misslungene Hirn- und Hodenoperation zum „Antichrist“ mutiert und die Welt in eine Apokalypse stürzt. Die Besetzung wartet mit namhaften Solisten auf, darunter Della Jones, Christopher Robson, Martyn Hill und Gerald Finley, am Pult der BBC Philharmonic steht der Komponist persönlich. Das Booklet ist leider extrem dünn gestaltet, das englische Libretto nur im Internet erhältlich. (Naxos 8.660359-60)

„Euclidian Abyss“, das Titelstück auf der neuen CD mit dem IEMA-Ensemble, fasziniert durch die konstruktive Behandlung der Klangfarben, die Hugues Dufourt in diesem Oktett besonders den Bläsersätzen angedeihen lässt; ein strikt gegenwärtiger Tonfall herrscht vor. Friedrich Cerha dagegen blickt in seinem Quintett für Oboe und Streichquartett auf die heroische Zeit der Wiener Atonalität zurück. Steingrimur Rohloff wiederum lässt seine kompositorische Fantasie frei schweifen und schafft so Raum für manche überraschenden Momente, während die Vierte, Unsuk Chin, in der hart konturierten „Fantaisie mécanique“ von 1994/97 auf kontrollierte Weise mit aufgestauten Bewegungsenergien arbeitet. Vimbayi Kaziboni ist der kompetente Dirigent bei diesen Aufnahmen, die zum zehnjährigen Bestehen der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA) entstandenen sind. (Ensemble Modern Medien, EMCD-023)

In eine völlig andere Welt entführen die drei zwischen 1949 und 1964 entstandenen Kammermusikwerke von Galina Ustvolskaya, eingespielt von der Geigerin Patricia Kopatchinskaja, dem Pianisten Markus Hinterhäuser und dem Klarinettisten Reto Bieri. Die manchmal fast mechanisch klingende rhythmische Gleichförmigkeit ist aufgeladen mit subjektivem Ausdruck, Klage und Trauer sind mit dem Tonfall starker Selbstbehauptung gemischt. Die unerhörte Binnenspannung dieser hart geschnittenen, oft überraschend einfachen Tonfolgen bringen die drei Interpreten mit großer emotionaler Kraft zum Klingen. Aus den verhärteten musikalischen Strukturen spricht die Stimme des unbeugsamen Ichs: Widerstandsbotschaften aus der stalinistischen Kollektivierungshölle. (ECM 481 0883) 

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