Joe Harriott +++ Jazz sur la croisette +++ The Best Big Band Jazz. Classics from The 1950s
„Man sollte sich nicht an Abstraktionen versuchen, wenn man keine lebendige Phantasie hat“ – heilige Worte eines verkannten Originalgenies, das damit wahrlich keine Schwierigkeiten hatte. Der jamaikanische Altsaxophonist Joe Harriott war wohl die europäische Antwort auf Eric Dolphy und Ornette Coleman. Wie seine Spielgefährten Shake Keane (tp) und Coleridge Goode (b) war er aus Westindien eingewandert, um erst einmal als Parker-geprägter, bluesiger Bebopper mit Calypso-Akzent von sich Reden zu machen; in den 60er-Jahren befruchtete er die britische Avantgarde-Szene wie kein Zweiter, war aber fast schon vergessen als er 1973 jung starb. Seine Quintett-Alben „Abstract“, „Southern Horzions“ und „Free Form“ aus den Jahren 1959 bis 1962, seine drei ersten LPs als Leader (um Bonustracks der Jahre 1955/56 ergänzt auf einer Doppel-CD vereint), sind Meilensteine radikaler Expressivität. Die Aufnahmen der 50er zeigen „nur“ druckvollen Bebop auf Höchstniveau, sogar vergleichsweise konservativen, also nichts, was einen Sonny-Stitt-Fan erschrecken würde, doch nach einem langem Krankenhausaufenthalt, der ihm Zeit gab, seine Musik neu zu überdenken, reifte am Ende des Jahrzehnts seine freie Form. Die im Jazz gängigen Parameter wie Akkordschema, Thema und beständiger Vierviertel-Beat werden dabei nicht allesamt über Bord geworfen. In jedem Stück findet sich etwas davon als roter Faden. Von Colemans zeitgleichen Experimenten unterscheidet sich die Musik Harriotts auch durch die herausragende Rolle des von Pat Smythe gespielten Klaviers. Die emotionale Dringlichkeit, der freche Spielwitz, das neugierige Erkunden unausgetretener Pfade, die geballte Kraft haben bis heute nichts an Frische und Faszinationskraft eingebüßt. Allerdings hätte man sie chronologisch anordnen können, um den Entwicklungsverlauf vom astreinen Bop zum Free nachzuzeichnen. (Poll Winners Records)
„Jazz sur la croisette“ bietet auf feiner Doppel-CD einen charmanten Hörfilm des Jazzfestivals von Cannes des Jahres 1958, das damals mit einem für europäische Verhältnisse ungewöhnlichen Staraufgebot aufwartete: Ella Fitzgerald, das MJQ, Bechet, Hawkins, Eldridge, Gillespie, Getz, Sims & Co. hatten hier gute Augenblicke in festen Gruppen und in Jam Sessions. (Ina)
Das Label Documents hat günstige 10-CD-Boxen im Programm, die aus bis zu 20 Original-Alben zusammengestellt wurden. Da sie keine liner notes aufweisen, kann man sie leider nicht nur zur Einführung in den Themenbereich, wohl aber zur Komplettierung einer Sammlung mit sonst eher seltenen Aufnahmen empfehlen. Was ist einer Box abzugewinnen, die sich „The Best Big Band Jazz. Classics from The 1950s“ nennt? Schon einiges, wenn man sich damit abfindet, dass der abgedeckte Zeitraum von 1951 bis 1963 (!) reicht und nicht nur Bigband-Musik enthalten ist: Es sind auch mittelgroße Gruppen dabei oder untypische Besetzungen wie etwa „The Trombones, Inc.“, die nur Posaunen als Bläser verwendeten. Es ist also gar kein „Best Of“, sondern streckenweise eher eine Kuriositätenshow von beeindruckender Vielfalt. Von manchen Größen bekommen wir Zentrales und Typisches – Count Basie („April In Paris“), Gil Evans („New Bottle, Old Wine“) – von anderen Unrepräsentatives, ja Entbehrliches („Kenton with Voices“). Man erkennt sogar ein astronautisches Leitmotiv durch die Wahl von Ellingtons Nonett-Album „The Cosmic Scene“, Bill Holmans „In A Jazz Orbit“ und George Russells „Jazz In The Space Age“. Wer die Alben auswählte, hatte wohl die Idee, der Abwandlung herkömmlicher Bigband-Konzepte in der Sputnik-Ära nachzugehen. Das wäre ein reizvolles Thema für einen Begleit-Essay gewesen. (Documents)