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Leonard Bernstein
Leonard Bernstein
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Silberscheiben, die bleiben

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Tonträger-Bilanz 2016: Hans-Dieter Grünefeld
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Der persönliche Jahresrückblick der nmz-Phonokritiker. Exzentriker: Leonard Bernstein, Komitas Vardapet, Tigran Hamasyan, Gebhard Ullmann, Julius Darvas.

Exzentriker haben bedenkenswerte Eigenschaften. Diesen Typus repräsentierte Leonard Bernstein (1918–1990) exzessiv. Aufgrund chronischer Schlafstörungen (Insomnia) verfügte er als Pianist, Komponist, Dirigent und medial versierter Dozent über Kapazitäten „Larger Than Life“ (CMajor), deren enormen Energieverbrauch er mit ebenso immensem wie diszipliniertem Arbeitspensum kompensierte. Wie Leonard Bernstein seine extreme Emotionalität und extensive Intellektualität kommunizieren konnte, stellt Georg Wübbolt in seinem Filmporträt mit prägnanten Archiv-Clips dar: so Bernstein in seinem Privathaus, als Moderator der berühmten TV-Show „Young People’s Concerts“ oder bei Proben und Konzerten mit den Wiener Philharmonikern. Mit diesem Film kann man die vielen, das Charisma seiner Persönlichkeit begründenden Facetten kennen und verstehen lernen, wie er Generationen fürs klassische Repertoire begeisterte.

In Westeuropa kaum bekannt, holte der Mönch und musikethnologische Forscher Komitas Vardapet (1869–1935), eine Kulturikone in Armenien, aus historischem Dunkel zu „Luys i Luso“ (Licht von Licht) archaisch-monophone Gesänge in die Gegenwart (ECM). Einige seiner Aufzeichnungen und auch anderer Komponisten sakraler Musik vom 5. bis 20. Jahrhundert hat Tigran Hamasyan sozusagen als Zeitraffer-Chronik für gemischten Chor und Klavier mit fundierter Kenntnis arrangiert. An und in die Originalmelodien fügte Tigran Hamasyan am Klavier eigenen spirituellen Subtext hinzu, indem er etwa eine vokal schwebende Stimmungsaura mit Diskant-Arpeggios und präpariertem Bassregister begleitet. Ruhiger Stimmen-Swing des bis in leiseste Töne perfekten Staatlichen Chor Yerevan unter der Leitung von Harutyun Topikyan steigert sich im Kontext von Klavier-Glockenklängen gar zu einem Moment der Ekstase, sodass die Freude an diesen suggestiven Chorälen ins Diesseits entrückt wird.

Unerschütterlich glaubt Multisaxophonist und Klarinettist Gebhard Ullmann an die Klangästhetik von Extempores. Seine Aufnahmen mit dem reaktionsschnellen Pianisten Achim Kaufmann und der äußerst variablen Vokalistin Almut Kühne sind artistische Equilibristik, im Moment „Marbrakeys“ (Leo/NRW) zu erreichen, einen Zustand, in dem dichtestes Interplay stattfindet. Das gelingt dem Trio, indem melodische Fragmente und Geräusche sowie Swing und freier Puls stets in einem attraktiven Spannungsverhältnis gehalten werden.

Eine Mischung aus Traditionen der Kaffeehausmusik, Balkan-Rhythmen und des Jazz haben Kontrabassist Julius Darvas sowie die Brüder Ondrej, Roman (Violinen) und František (Klavier) Janoska aus Bratislava als „Janos­ka Style“ (Deutsche Grammophon) entwickelt. So, dass sie „Die Fledermaus-Overture“ von Johann Strauß in rasanten Episoden gleich durch alle Ingredienzien deklinieren. Die „Carmen Fantasie“ von Franz Waxman wird gar zum dramma per solisti. Vigor, Schmelz und Improvisationslust sind hier auf klassischem Niveau kultiviert. Abseits dominanter Stilistik und konventioneller Attitüden haben diese Persönlichkeiten selbstbewusste Akzente gesetzt.

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