Xilin Wang +++ Unsuk Chin +++ Florence Millet
Sinfonische Massaker
1
Xilin Wang, hochbetagter Vater der hierzulande gut bekannten Komponistin Ying Wang, emigrierte 2017 nach Deutschland und bekam umgehend das Etikett „Chinas Schostakowitsch“ verpasst. Im Gegensatz zum ambivalenten Dasein des sowjetischen Staatskomponisten führte die Unverblümtheit von Wangs künstlerischen Mitteilungen allerdings dazu, dass er während der Kulturrevolution 13 Jahre in die Strafkolonie wanderte. Trotzdem nimmt auch seine 1990 vollendete 3. Sinfonie kein Blatt vor den Mund. Sie ist den Opfern des Tiananmen-Massakers von 1989 gewidmet und entsprechend aufgeladen mit den Insignien von Gewalt und Verzweiflung. Der Kopfsatz klingt mit seinen grüblerischen Melodiebewegungen der tiefen Streicher tatsächlich melodisch, harmonisch und instrumentatorisch wie Schostakowitsch 2.0. Aber spätestens im bizarren Scherzo wird evident, dass selbst die abgründigen Exzentriken und Doppelbödigkeiten sowjetischer Sinfonik ein Sturm im Wasserglas sind, verglichen mit den Klangbeben, die in dieser Sinfonie entfacht werden. Bei Wang hört sich das an, als würden ganze Armeen das Orchester heimsuchen, um Tod und Schrecken zu verbreiten. Die ‚Brutalität‘ der Instrumentation und das Ausmaß expressiver Massierung erscheinen gelegentlich apokalyptisch. Vergleichbar mit Schostakowitsch, wirkt auch Wangs Sinfonik aus der Perspektive westlicher Standards zeitgenössischer Musik seltsam aus der Zeit gefallen. Wie immer man das musikhistorisch einordnen möchte: Hier gibt es eine bekenntnishafte Radikalität und Konsequenz der klanglichen Mitteilung, der man sich schwerlich entziehen kann. (Wergo)
2
Unsuk Chin heißt die diesjährige Preisträgerin der Ernst von Siemens Musikstiftung und als hätten sie es geahnt, haben die Berliner Philharmoniker ihr im hauseigenen Label eine opulent ausgestattete Edition gewidmet. Die Wahl-Berlinerin koreanischer Herkunft kann auf eine fast 20-jährige Zusammenarbeit mit dem Orchester zurückblicken, die hier in exzellenten Live-Mitschnitten dokumentiert ist. Sie begann erstaunlich spät, mit der Aufführung des 1. Violinkonzertes (2001) im Jahr 2005 mit Christian Tetzlaff und Simon Rattle. Ausgesprochen elegisch geht es im Cellokonzert (2006/08) zu, dessen solistische Passagen zwischen brüchig schwebenden Obertonklängen und expressiver Klangrede ganz auf Alban Gerhardt zugeschnitten sind. Völlig anders das Klavierkonzert (1996/97), wo Solist und Orchester zu einem rastlosen „Hyperinstrument“ verschmelzen. „Choròs Chordón“ (2017) – seltsamerweise das bisher einzige Auftragswerk der Berliner! – ist ein Musterbeispiel für Chins Kunst, vermittels komplexer Orchestertexturen mehrdimensionale Raumwirkungen und sublime Lichtsituationen zu schaffen. Fast alle Einspielungen sind via Blu-ray (wer nutzt das?) auch als Konzert-Videos erlebbar. Hervorzuheben ist die grafisch sehr ansprechende Gestaltung dieser Box. (BPHR)
3
Florence Millet knüpft mit „Key Words – Piano Parlando 2“ nahtlos an die Poetik der erste Folge an. Dass es sich dabei um „Schlüsselwerke“ zeitgenössischer Klaviermusik handelt, wie das Booklet vermeldet, ist jedoch ziemlicher Unsinn. Es sind vor allem poetische Miniaturen, die hier beziehungsreich im Blickpunkt stehen und darunter ist manche Entdeckung zu machen. Im Experimentallabor Peter Ablingers stand das elementare Verhältnis von Wort und Klang immer hoch im Kurs: In der Serie „Voices and Piano“ (1998 ff.) hat er prominente O-Töne pianistisch synchronisiert: Das führt im Falle von Pina Bausch (2021) zu einem faszinierenden Pas de deux aus Sprachmelodie und Klaviermotorik. Ein thematischer Seitenstrang dieser Anthologie ist der Tod. Leos Janáceks „1.X.1905“ gedenkt in zwei Sätzen dem tragischen Schicksal eines durch das Militär getöteten Demonstranten in Brünn. György Kurtág ist diesmal gleich mit sieben Kurzmitteilungen aus „Játékok“ vertreten: „Les Adieux (in Janáceks Manier)“ (1992) ist eine traumverhangene Reverenz an den Charakter von Janáceks Sonate. In bester Kurtág-Tradition steht auch Dariya Maminovas „Muschel I“ (2020), inspiriert durch das gleichnamige Gedicht Ossip Mandelstams. Sie hat mit gedämpften Glockenklängen eines präparierten Klavieres ein introvertiertes Kleinod geschaffen. Für den Ausklang sorgt, wie schon in Folge 1, der gute alte Satie, diesmal mit den „Danses Gothiques“ (1893). Die kryptische Para-Religiosität von Saties gravitätischen Akkord-Folgen bringt Millet mit gelassener Zurückhaltung zum Leuchten. (Ars)
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