Sich selbst genug und zugleich für andere kommunikativ zu sein, ist schwierig. Doch Solitäre sind sich der Bürde bewusst, dass sie einzeln und allein coram publico überzeugend sein müssen. Folgende Solitäre werden rezensiert: Keith Jarrett, Chris Gall, Stefan Schultze, Andreas Schickentanz und Stephan Micus.
Ein Habitus, den Keith Jarrett vollkommen verinnerlicht hat, wenn er, ganz auf seine Intuition vertrauend, wie „La Fenice“ (Phönix) quasi aus dem Nichts beim Solo-Konzert im Gran Teatro Venedig 2006 mit dunkel gesprenkelten Timbres beginnt, die sich durch Kaskaden serieller Elemente im Jazzidiom zur komplexen Rhapsodie formen. Darüber hinaus leitet Keith Jarrett tonale Zentren dieser Idee dramaturgisch als entwickelnde Variation zu einer lyrischen Episode, einem gitarresken Ibero-Motiv und anderen Stil-Ebenen, sodass Part I–VIII seines spontanen Gedankenflusses wie eine gigantische Klavier-Symphonie erscheint. (ECM)
Ein Pendant zu diesen Klangdimensionen ist der „Room Of Silence“ von Chris Gall, dessen proportional ausgeglichenen Songs einerseits auf einfache tonale Motive oder Groove-Melodien über Ostinato-Figuren reduziert sind. Andererseits evozieren vier Standards, etwa „Julia“ von John Lennon, auf einem antik-klappernden Klavier eine gewisse Nostalgie. So gelingen Chris Gall introvertierte Impressionen in ruhig-nachdenklichem Duktus, und er lädt zu entspannendem Zuhören ein. (Edition Collage/GLM)
Andere Möglichkeiten, im Alleingang Jazzrepertoire zu präsentieren, ergeben sich durch Amplifikationen eines Instruments. Das kann ein präpariertes Klavier sein, von Stefan Schultze genutzt, um Strukturen als „System Tribe“ zu organisieren: zu einem repetitiven Motiv fügt sich da ein perkussives 7er-Metrum und noch ein elektronisches Pattern, die schließlich zum Rockriff verschmelzen. Außer solchen Parallelschichtungen findet Stefan Schultze Expressivität in pianistischen Texturen wie variablen „Return“-Tremoli oder einem „Fade“-Akkord, metallischen Clustern auf Klaviersaiten oder der Integration von Naturgeräuschen (Vogelstimmen), sodass seine oft minimalistischen Kompositionen strikt themenzentriert wirken. (Why Play Jazz)
Umgekehrt verwendet Andreas Schickentanz für seine „Stories From The Crooked Path“ elektronische Muster, in die und mit denen er an der Posaune improvisiert, kontrastiv elegisch zu einem „Heatwave“-Loop oder per virtuosen Riffs zu Swing-gestreckten „Time“-Sounds oder mit Hall und Echo bei verzerrten Klangspektren. Zusätzlich geben physische Multiphonics diesen faszinierend verschlungenen Echtzeit-Arrangements manchmal orchestrale Fülle. (JHM)
Mehr als ein Dutzend akustischer Instrumente kann sogar der Musik-Nomade und Sound-Alchimst Stephan Micus bei den wechselnden Besetzungen seines Ein-Mann-Ensembles nicht simultan bedienen. Deshalb braucht er für kontemplative „White Nights“ Overdubbings, damit er mit fünf 14-saitigen Gitarren, Bass-Duduk (armenische Doppelrohrblattflöte), tibetischen Becken und einer Stahl-Saiten-Gitarre durchs „Eastern Gate“ gehen kann. Ebenso über „The Bridge“, wenn er mit vier Bronze-Kalimbas (Daumenklavier), einer Sinding (westafrikanische Harfe) swingt und ein freundliches Lied singt, gar im „Fireflies“-Chor, den immerhin dreizehn indische Rohrflöten begleiten. Ob sich Stephan Micus einsam fühlte? Wahrscheinlich nicht, denn seine Musik ist von einer Mission geprägt: Lebensfreude zu verbreiten. Er ist ein Solitär für sich und für andere repräsentativ als Entdeckung, dass einzeln zu bestehen, außer Selbstbewusstsein vor allem Weltoffenheit erfordert. (ECM)