Dass das deutsche Chanson, dessen Hochblütezeit in den 20er- und 30er-Jahren abrupt vom nationalsozialistischen Regime gekappt wurde, noch lange nicht tot ist, beweist derzeit eine junge Berliner Band mit dem unspektakulären Namen „Nylon“. Ganz und gar nicht künstlich sind nämlich deren Neu-Interpretationen berühmter Songs von Marlene über Senta Berger, Manfred Krug und Hildegard Knef. Mit groovigen Elektrosounds entstaubt das Quintett um Sängerin Niku Sebastian (alias Jazzsängerin Lisa Bassenge) das Material, das beweist, dass deutsche Texte nicht automatisch nach Omas Grammophon oder Musikantenstadelschlagern klingen müssen.
Ins Jetzt transportierte Wiederentdeckungen“, so bezeichnet DJ Stefan Rogall (Sonar Kollektiv) das Ganze. Und Bassist Paul Kleber wehrt sich gegen den Begriff „Coverversionen“, denn „eine Coverband spielt Stücke Eins zu Eins nach, um auf Partys die Leute zum Tanzen zu bringen. Wir dagegen haben unsere eigenen Versionen gemacht, die einen völlig neuen musikalischen Gestus haben.“ Womit er völlig recht hat. Hier wird nicht mit dem Rrrr lustvoll gerollt, wie das Max Raabe seit Jahren höchst erfolgreich tut, oder à la Tim Fischer mit der Federboa geworfen und den Diven der Dreißiger nachgeweint. Wenn Niku rotzig-frech und trotzdem gefühlvoll die berühmten Zeilen ins Mikro haucht und nüchtern-trotzig sprechgesangt, wird man wieder richtiggehend aufgerüttelt, und die bekannten Worte bekommen eine ganz neue sachlich-moderne Bedeutung.
Und auch die Songauswahl ist wohl überlegt und ausgewogen. Von dem wunderschönen Comedian Harmonist-Song „Die Liebe kommt, die Liebe geht“, der schon über 70 Jahre auf dem Buckel hat, über Marlenes „Johnny“ bis zu Hildegard Knefs „Im 80. Stockwerk“ oder dem Neue-deutsche-Welle-Song „Feuerzeug“ – der Bogen ist gekonnt gespannt und abwechslungsreich, und man hätte nie gedacht, dass dieser dubbige Clubsound zu diesen alten Klassikern so gut passen kann. Musikalisch renoviert wurden zudem Lieder von Manfred Krug und Barbara Thalheim, die eine weitere musikalische Achse in den ehemaligen Osten bilden. Großstadt-Sound der feinen deutschen Art.
Wesentlich klassischer geht es auf zwei weiteren Neuerscheinungen des Genres zu: Auf der bei Russki Records erschienenen CD „Das Leben ohne Zeitverlust interpretiert die Diseuse Susanne Brantl stimmlich gekonnt und geschmeidig Vertonungen von Kästner-Chansons des Münchner Komponisten und Rundfunkpioniers Edmund Nick (1891–1974). Seine Tochter Dagmar hat das Repertoire aus dem Nachlass ihres Vaters der Schauspielerin und Kabarettistin für Neuinterpretationen überlassen. Herausgekommen ist dabei ein stimmiges Album mit Raritäten des deutschen Chanson-Liedgutes aus dem Münchner Nachkriegskabarett „Die Schaubude“, das Erich Kästner nach dem Krieg mit Edmund Nick gründete. In der Tradition großer Vorgängerinnen wie der Knef oder der Hollaender-Muse Blandine Ebinger spielt und singt Susanne Brantl dieses hochdramatische Repertoire nach und entführt die Zuhörer in eine andere schmerzbeladene Zeit. Es geht um Kriegsheimkehrer („Marschlied 1945“), Witwen und einsame Menschen zwischen den Zeiten, die mit Warten ihr trauriges Leben fristen. Musik zum Nachdenken und Erinnern.
„Wenn ich mal tot bin…“ nach dem gleichnamigen Friedrich-Hollaender-Chanson, das der große Kleine der Goldenen Zwanziger seiner ersten Frau Blandine Ebinger auf den schlanken Leib geschrieben hat, ist der Titel eines Live-Mitschnitts im Stadttheater Fürth. Von Pianist Heinrich J. Hartl, der selber ein paarmal stimmlich tätig wird, begleitet führt Chansonette Jutta Czurda durch ein buntes Programm mit Klassikern unter dem Motto „Lieder über Liebe und Tod“. Das hat durchaus Charme und Klasse, auch die Liedauswahl ist ansprechend: Traditionelles wie „Stellts meine Roß in Stall“ oder „Marterl“ mischen sich mit den erwähnten Hollaender-Songs, dazu gestellt wurden Eigenkompositionen Hartls mit Texten von Mascha Kaléko oder Günter Eich. Groß: Hartls Interpretation von „Wann i amol stirb“.
Zum 200. Geburtstag des Dichters Eduard Mörike hat der Komponist und Pianist Peter Schindler mit seiner Formation SaltaCello 14 traurig-schöne Texte vertont. „Rosenzeit“ entführt in romantische Welten voller Liebeskummer und Gefühlschaos, jazzige Elemente treffen auf klassische, und die Mischung geht auf. Sängerin Sandra Hartmann überzeugt mit klarer ausdrucksvoller Stimme und schwebt auf dem interessanten Klangteppich von Wolfgang Schindler (Cello), Peter Lehel (Saxophon, Klarinette, Flöte), Mini Schulz am Bass, Schindler (Piano) und Herbert Wachter an den Drums. Nichts zum Nebenbei-Hören, sondern zum Zuhören und Nachdenken – vielleicht für die ersten kühlen Herbstabende…
Temperamentvoll und abseits ausgetretener Chansonpfade agiert Vollblutmusikerin Tina Teubner auf dem aktuellen Live-Mitschnitt ihres Programms „Glücksgalopp – Rettet die Maßlosigkeit“. Von Bernd Süverkrüp galant am Klavier begleitet reitet sie durch einen unterhaltsamen Kosmos an Alltagsgeschichten, spielt selber Geige, singende Säge und Ukele dazu, eingestreut sind kabarettistische Monologe zu so unterschiedlichen Themen wie Heiratsanträgen, Ameisenmenschen oder dem Leben in der Warteschleife. Das ist überdreht, klingt gut und macht Lust auf das sinnliche Leben, das aus dem Vollen schöpft, denn die „Sehnsucht nach Glück ist groß – die Angst davor genauso“.
Wer noch eine gründliche Vorbildung braucht oder Nachbereitung wünscht, dem sei eine Sammlung mit dem Titel „Nur nicht aus Liebe weinen. Die Großen Damen des deutschen Chansons“ von Reader’s Digest empfohlen: auf den fünf CDs des Digi-Packs versammelt sich alles, was Rang und Namen hat: Alexandras „Zigeunerjunge“ (siehe auch DVD-Tipp auf Seite 40 dieser Ausgabe!) trifft auf Marlene Dietrichs „Jonny“, Lale Andersen singt eine Nachtigall an, Zarah Leander den Wind, der ihr ein Lied erzählt hat, Hildegard Knef Berlins Sommersprossen und Greta Keller die Sonne, die hinter den Dächern versinkt. Im beiliegenden Booklet werden die singenden Damen kurz, aber etwas operflächlich vorgestellt. Als gute Einführung kann diese Sammlung von 120 (!) Chansons aber allemal von Nutzen sein.
Kleiner Ausflug in den Jazzbereich: die Sängerin Conny Kollet bastelt mit ihrem hervorragenden Mitmusikern deutsche Texte für bekannte Jazzstandards: Aus „Fly Me To The Moon“ wird hier „Schieß mich auf den Mond“, aus „Brasil“ „Fragil“. Und was eher wie ein gewagtes Experiment klingt, ist hörenswert unterhaltsam und erinnert an die nonchalanten Interpretationen eines Manfred Krug, was in diesem Fall als Kompliment gemeint ist. Und den „Boy von Ipanema“ würden wir auch gern mal kennenlernen…
Poet und Songwriter Wenzels Erstling „Stirb mit mir ein Stück“ mit wunderbaren unvergesslichen Liedern wie „Feinslieb“ oder „Ich bin vom grünen Licht so schwer“ (vgl. DVD-Kritik, nmz 6-04, S. 40) wurde übrigens wieder neu aufgelegt, wer also das Original vermisst, ran.
Wem das nun doch alles zu schwer verdaulich und deutsch ist, sei zum Abschluss auf einen wunderbaren Sampler von Emarcy/Universal verwiesen. Auf „ParisFétiche“ treffen die Stars des klassischen französischen Chansons wie Barbara, der kürzlich verstorbene Serge Reggiani oder der große Jacques Brel auf moderne Neuinterpretationen etwa von De-Phazz, Polo oder Olivia Ruiz und Raritäten wie dem Jazzklassiker „My Man“ von Diana Ross.
Ein aufregendes Stelldichein in der Stadt der Liebe, das Lust auf mehr macht und sicherlich dazu verführt, in alten Chansonplatten zu kramen und sie sich wieder einmal zu Gemüte zu führen.
Diskografie
- Nylon: Die Liebe kommt
Boutique/Universal 060249821155 - Erich Kästner/Edmund Nick: Das Leben ohne Zeitverlust. Chansons der Stunde Null; Susanne Brantl, Gesang, Gerold Huber Klavier
Russki Records 08251 - Jutta Czurda, Heinrich Hartl: Wenn ick mal tot bin… Lieder über Liebe und Tod
Streetlife-Music 4002-01-04 - SaltaCello: Rosenzeit
Finetone music FTM 8012 - Tina Teubner Live: Glücksgalopp. Rettet die Maßlosigkeit! Lieder, Kabarett, Unfug
[li:d] records 1-1103/Conträr - Nur nicht aus Liebe weinen. Die großen Damen des deutschen Chansons
Reader’s Digest: Verlag Das Beste GmbH, Stuttgart (GDC 21 071835 79) G 01 040 GG - Conny Kollet: Schieß mich auf den Mond
Rodenstein Records ROD 12/jazz-network.com - Wenzel: Stirb mit mir ein Stück
Conträr Musik 3189-2 - ParisFétiche/World Famous Rendez-Vous
Emarcy/Universal 981112 2