Wiederum eine Anregung, Vergessenes im geschichtlichen Zusammenhang zu hören. Das Finale der „Jungfrau im Turm“, wo Frühling mit unblutiger Befreiung assoziiert wird, ist vom gleichen utopischen Schwung wie der Vernunft-Appell in der „Krönungskantate“ für den fernen, gehörlosen Zaren Nikolaus II. – nur seine Polizei spitzte die Ohren und vernahm bald, wen wundert’s, auch ganz andere Töne: krähend militante, einstimmige Knaben- und Männerchöre, die sich als hartnäckige Fußnoten an Sibelius’ vokales Schaffen hefteten.
An dessen Anfang aber steht, mächtig-unangreifbar in der Sprachform, das Gattungsgrenzen sprengende Chor-Epos „Kullervo“: Osmo Vänskä läßt es virtuos ins Drama umschlagen. Und er zeigt, gemeinsam mit Neeme Järvi, die reichen Perspektiven der Schauspielmusik auf. Gerade die vom konventionellen Denken gering geachteten „illustrativen“ Anforderungen dieses Genres hat Sibelius genutzt, um ganz individuelle Klang- und Raumwirkungen zu erproben (so etwa in Zusammenarbeit mit Adam und Johannes Poulsen, für deren Kopenhagener Produktion von Shakespeares „Sturm“).
Daneben viel Buchenswertes in kleinen Formen. Ein frühes f-moll-Allegro für Klavier (1888), mit raunzenden Doppelvorschlägen. Eine automatenhaft klirrende „Florestan“-Suite. Experimente mit der Sonatenform, in der Sibelius’ pianistische Ideen kaum freiwilliger hausen mochten als Igel in einem Käfig – es sei denn, es kommt eine Geige mit ins Spiel: Wo sie ist, herrscht ein ganz eigener Ton voller Esprit, Licht und Witz, der mit den Jahren an Schärfe zunimmt. Und dann wieder ganz entspannt sein kann, wie in der späten Vagabundenfantasie für ausnahmsweise unbegleitete Geige (1924/26): Ihr fröhliches Gefiedel ist ein Unikum, das sich um keine Erwartungen mehr schert. Sich gernhaben läßt. Einfach barfuß geht.