Viele Pop-Musikkritiker halten „Dummy“, das 1994er-Album der Gruppe „Portishead“, für das wichtigste Sound-Ereignis der 90er-Jahre. Weitab in der englischen Provinz, in Bristol, entstand am Ende der Thatcher-Ära fernab von Brit-Pop, Grunge, HipHop und NuMetal eine Klangwelt, die bald weltweit zum dominierenden Hintergrundgeräusch des progressiven Alltags und der avancierten Medien wurde.
Man könnte sagen, dass der Bristol-Sound die Ästhetiken der Post-Moderne, die damals en vogue war, vollkommen resümierte. Und das wunderbarste dabei war: Das Déjà-vu-Erlebnis, das sich beim Hören immer wieder einstellte, verdrängte nie den Eindruck des Neuen, Unerhörten. Der Bristol-Sound war in mehrfacher Hinsicht ein Paradox: eine synthetische Zukunfts-Musik, die sich scheinbar nur aus den Highlights der Erinnerung zusammensetzte; ein Geräusch-Ambiente wie vom Design-Tisch der Computer- und Internet-Generation, das aber stets warm, „persönlich“, auch authentisch wirkte; Töne aus der Matrix-Welt, mit denen sich Geschichten und Gefühle transportieren ließen, kühl und doch pathetisch.
Es gab viele Interpreten, die man unter dem Logo „Bristol-Sound“ oder dem Kampfbegriff „TripHop“ zusammenfasste, aber letztlich zählten nur Massive Attack, Portishead und Tricky: Alle Drei erkannten das Potenzial, das in einem raffinierten Easy listening à la Burt Bacharach steckte, sie hatten ein Faible für „spacige“ Filmmusiken, für zerrissene Sound-Architekturen und komplexe Montagen. Aber im Bristol-Kosmos klang alles smooth und soft, selbst das Dissonante steigerte nur die Empfindung gesteigerter Harmonie und New Electronica wurde zum elegischen Blueprint einer sehr suggestiven, auch sehr wehmütigen Renaissance des Melodiösen in der Pop-Musik. In Bristol, so schien es, wurde das Paradox zum Rezept für Erfolg.
Der hatte freilich wie immer seinen Preis. TripHop wurde zum kleinsten gemeinsamen Nenner in Fernseh-Features aller Art, die schöne Erfindung schien im Welt-Medien-Rauschen unterzugehen. „Tricky“, der nach seinem wunderbaren „Maxinquaye“ rascher als die anderen produzierte und immer beliebigere Alben auf einen gesättigten Markt warf, schien nur die allgemeinere Diagnose besonders drastisch zu belegen, dass TripHop kein Sub-Genre mit Potential, sondern eher eine Art bequemer Strickanleitung für Kunsthandwerk aus einer virtuellen Matrix-Welt war.
Großzügiger formuliert: Der „Bristol-Sound“ schien historisch geworden. Aber genau die Distanz zum (nur) Modischen, die sich dadurch herstellte, ermöglichte in diesem Frühjahr einen doppelten Triumph: TripHop erwies sich als Virus – „from outer space“, wie William S. Burroughs gesagt hätte, nur dass sich dieser Weltraum gut romantisch als das Innerste der Menschenseele und der Maschinenlogik erweist. Er ist fähig zur unendlichen Variation und zur Resistenz. Wenn das „Portishead“-Schema (vielleicht) ausgereizt ist, und zwar durch maßlosen Erfolg, dann muss man eben zu anderen, noch unmöglicheren Verbindungen greifen.
Beth Gibbons verbindet sich mit einem „Talk Talk“-Mastermind – und wer die Lobeshymnen der Feuilletons liest und/oder jung ist, würde nie ahnen, dass diese Band in den „stylishen“ 80er-Jahren bei mode- und geschmacksbewussten Jungerwachsenen höchstens in der Rubrik peinlichstes Lieblingsstück für eine Art Intimitäts-Furore sorgte. Jetzt ist Beth Gibbons im „Talk Talk“-Mood cool auf die zeitenthobenste, haltbarste Art: als klassische Geschichtenerzählerin, die von Wohl und Wehe des Subjekts erzählt; in Zeiten, die ihm nicht unbedingt gewogen sind.
Massive Attack waren immer schon beides: radikal, sofern es um die eigenen Erfindungen ging, und sehr, sehr behutsam, wenn der drohende Clash mit einer noch so diffusen Korrektheit auf der Tagesordnung stand. Das Schicksal dieser Band sind die Golfkriege: Beim ersten mit westlicher Beteiligung, 1991, gaben sie prompt den Bestandteil ihres Namens preis, der aggressive Missverständnisse erlaubt hätte, und auch jetzt, beim halben Comeback mit „100th Window“, kam ihnen die Weltgeschichte, die immer, wenn sie sich meldet, Schädelstätte ist, ein wenig in die Quere.
Nicht kommerziell freilich! In den Charts schoss der TripHop-Relaunch, der Bristol endgültig zum Teil der Matrix-Welt macht, sofort von Null auf Eins. Zu hören sind massive Attacken auf überkommene Sicherheiten; und es liegt wie beim Film am Rezipienten, wie platt oder komplex er sie dekodiert. „100th Window“ ist Grenz-Sound, das „Borderliner“-Sein wird in den mäandernden Songs mehrfach thematisch. Im Bristol-Sound anno 2003 geht es sehr „massiv“ um Daseins-Design, die Sozial-Kritik bekommt oft eine esoterische Wendung, die Selbst-Definition von Subjekten in einer Welt, die Sicherheiten nicht mehr zu kennen scheint, rückt in den Vordergrund. Die Seele rutscht in den Klang, der sie permanent neu definiert und erzeugt.
Aktuelle Alben
Massive Attack: 100th Window, Virgin
Beth Gibbons: Out of Season, Go! Beat