Bestimmte Persönlichkeiten waren in der Ära nach dem II. Weltkrieg bis etwa 1970 als Saxophonisten repräsentativ für stlistische Umbrüche und Neu-Orientierungen. Ihre Namen: Charlie Parker (1920–1955), John Coltrane (1926–1967) und Rahsaan Roland Kirk (1936–1977) wurden zu Giganten der Jazzgeschichte, von denen alles bekannt ist. Alles? Nein.
„Glücklichen Umständen“ und auch investigativer Beharrlichkeit ist zu verdanken, dass Phil Schaap erst jetzt „Charlie Parker – Unheard Bird / The Unissued Takes“ (Verve 00602547846587 / 2 CDs) herausgeben konnte.
Das sind knapp 70 Aufnahmen (inklusive Mastertakes der Jahre 1949-1952) für die Label Mercury und Clef aus einem bis dahin verborgenen Archiv von Jazz-Impresario und Produzent Norman Granz. Ein Sammler-Juwel, denn sie sind nicht nur ein historisches Dokument, sondern geben Einblick in die Werkstatt, wie Projekte mit dem Bebop-Pionier vorbereitet und konzipiert wurden. So kann man in den fünf Takes von „Okiedoke“ nachvollziehen, wie Charlie Parker sich mit Machito and his Orchestra der endgültigen (Kuba-Latin) Version nähert: zunächst ist seine Alto-Improvisation seltsam abstrakt, dann melodiöser, aber mit verzögertem Einsatz, weiter fragmentiert mit verschmierten Phrasen und schließlich elegant und voll präsent. So ist auch das Prozedere bei den anderen Aufnahmen mit Besetzungen vom Quartett über Septett, eigener Big Band und Streichern. Studio-Jazz als work in progress wird dabei zum rezeptiven Abenteuer.
War für Charlie Parker revolutionäre Periodisierung von Phrasen kennzeichnend, so für John Coltrane deren modale Auffächerung zu sheets of sounds, womit er während „The Atlantic Years - 1959-1961“ (Atlantic 008 1227946418 / 6 CDs beziehungsweise LPs plus Bonus Single) als Bandleader rüssierte. Mit diesen rasanten Akkordmustern am Tenorsax machte John Coltrane „Giant Steps“, jedoch ohne die Herkunft, nämlich „Plays The Blues“ & „The Blues Legacy“ (ein bisher unveröffentlichter Titel mit dem Vibraphonisten Milt Jackson) zu vergessen. Auch wenn das andere kreative Ende damals „The Avant-Garde“ zugeordnet wurde, so sind diese (sehr gut hörbaren) Monoaufnahmen mit dem expressiven Trompeter Don Cherry ein Rekurs zum Bebop. Und erst das iberische „Olé“ legt eine neue Spur, indem John Coltrane über suggestive Rhythmen und statischer Thematik sich (seinen zukünftigen Gestus antizipierend) in hymnisch-schwebenden Sphären eines Klangpredigers bewegt. -
„Klänge waren sein Leben und als Blinder sein Augenlicht. Er sah mit den Ohren“, sind Kernsätze aus der Filmbiographie „Rahsaan Roland Kirk – The Case Of the Three Sided Dream“ von Adam Kahan (Arthaus 109251, DVD), die Karriere des Multiinstrumentalisten rekonstruierend. Eine in vielen Sequenzen surrealistische Montage aus Interviews (mit Ehefrau Dorhtaan und Sohn Rory Kirk, der Poetin Betty Neals, Posaunist Steve Turre u.a.), Konzertmitschnitten und psychedelischen (Sprach-)Graffitis. Alles, was seine Vorgänger und Zeitgenossen erreicht hatten, sowie von Naturlauten bis Obertongesänge aus Tuva absorbierte Rahsaan Roland Kirk als seine akustische Umgebung und brachte diese Elemente zur Synthese eines Personalstils, der vor allem durch die Technik der Zirkularatmung geprägt war. An drei Saxophonen (oft alternierend mit Querflöte) konnte Rahsaan Roland Kirk etwa „Mood Indigo“ von Duke Ellington mehrstimmig spielen, lange Passagen mit einer Drone fundieren oder gar kontrapunktische Linien kombinieren. Er war ein Unikat und ein Phänomen, dessen Fähigkeiten zu artistischer Unterhaltung (oft mit Humor) nun endlich umfassend gewürdigt worden ist.