CDs mit und von und zu: Samir Odeh-Tamimi, Brian Ferneyhough, Neue-Musik-Szene der Schweiz, Uli Fussenegger, Giacinto Scelsi.
Bassist und Komponist Uli Fussenegger unterhält zur Musik Giacinto Scelsis ganz besondere Beziehungen. Für sein Projekt „Scelsi revisited“, dessen Ergebnisse 2014 in Köln und Witten präsentiert wurden, hatte er sieben Komponistinnen und Komponisten eingeladen, die mikrotonale Polyphonie von Scelsis Ondiola-Stücken auf Grundlage der lange Zeit nicht zugänglichen Originalbänder kompositorisch weiterzuspinnen. Fusseneggers eigener Beitrag heißt „San Teodora 8“ (2014) und ist eine ausgewiesene Hommage an den mythenumrankten Italiener: Die Klangaura von Scelsis „Aufzeichnungen“ hat Fussenegger bewusst erhalten und präsentiert sie in den ersten 24 Minuten des Stückes in immer neuen Schichtungen praktisch „nackt“: Scelsi als Zeremonienmeister einer archaischen Elektro-Klangwelt, feinste Verschiebungen der mikrotonalen Nuancen fabrizierend. Erst im Zentrum des Stückes schleichen sich unmerklich vier Instrumentalisten in die Patina der Originalklänge: Ernesto Molinari (Kontrabassklarinette), Mike Svoboda (Posaune), Martin Siewert (E-Gitarre) und der Initiator selbst. Sie verbinden sich spürbar energetisch mit diesem vibrierenden Klangstrom, der sich durch tendenziell unendliche Räume bewegt. Es ist seltsam, dass im Booklet der komplette Projekt-Kontext des Werkes verschwiegen wird. (Kairos)
Diese britische Produktion mit Werken Brian Ferneyhoughs deckt ein halbes Jahrhundert „New Complexity“ ab und ist besonders interessant, weil sie Orchesterwerke enthält – in Ferneyhoughs Œuvre haben sie den Status von Raritäten. Traute der Komponist mit Hang zu ausgeprägter Ereignisdichte dem eher schwerfälligen „Apparat“ Orchester zu wenig zu? In „Plötzlichkeit“ für zwei Soprane, Alt und Orches-ter (2006) bewegen sich die drei Sängerinnen wie Sirenen durch dramatische Tumulte. Kaum noch steigerbar scheint die Ausdrucksdichte im apokalyptischen „La Terre est un Homme“ (1976/79), ein immersiver Dauerexzess vom ersten Takt an. Angesichts Ferneyhoughs offensichtlichem Vergnügen an der Entfesselung massiver Orchesterrhetorik, hier vom BBC Symphony Orchestra bravourös gemeistert, bedauert man, dass er deren Potentiale nicht öfter genutzt hat. (NMC)
Einen umfangreichen Überblick über den aktuellen Stand der vielfältigen Neue-Musik-Szene der Schweiz gewährt die neunte Folge der Grammont Sélection, optisch in neuem, ansprechenderen Gewand, aber leider nun ohne Begleitheft. Nicht schön. Dafür gibt es per Doppel-CD eine Auswahl der wichtigsten Uraufführungen 2015–2017 von zwölf Komponisten und zwei einsamen Komponistinnen (Ezko Kikoutchi, Katharina Rosenberger). Zwischen Dieter Ammanns filmreifer „Glut“, Carlo Ciceris furiosem Klangexzess für verstärktes Orchester, Edu Haubensaks mikrotonaler Horn-Aufspaltung von „Corno Sonoro“ oder Dabiel Zeas Drum’n’Bass-gesättigten Computerspiel-Allusionen in „Pocket Enemy“ ist der Tisch reich gedeckt. (Pro Helvetia)
Die ganze Intensität von Samir Odeh-Tamimis Klangsprache, die so eindrucksvoll Aspekte arabischer Musik mit westeuropäischen Komponiertraditionen zu verbinden versteht, könnte kaum unmittelbarer zu Wort kommen als in dieser Veröffentlichung des Berliner Zafraan Ensembles mit Kammermusikformaten aus den letzten Jahren. „Lámed“ für Klaviertrio und Bass-Posaune gibt mit erdigen, schrundigen Klangfarben und schroffen Artikulationen im Blech die Richtung vor. Neben Solostücken für Violoncello („Uffukk“), Violine („Solo“), Baritonsaxophon („Lámed II“) und Bassklarinette („Lámed III“), welche die Physis von Instrument und Spieler auf die Probe stellen, offenbart sich die ganze Wucht von Odeh-Tamimis Musik vor allem in den Ensemblestücken. „Alif“ verkörpert in dieser Hinsicht einen expressiven Extremzustand, wo es unentwegt schwelt, ächzt, brodelt und bebt und sich „Erzählerin“ Salome Kammer wie auf einem Kriegsschauplatz bewegt. Intensität ist ein viel bemühtes Wort im Zusammenhang von Interpretation, aber hier erhält das eine wirklich exis-tenzielle Dimension. (Kairos) ¢