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Utopische Fugenkunst

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Johann Sebastian Bach: Die Kunst der Fuge, BWV 1080 (Keller Quartett) · ECM New Series 1652, 457 849-2 (Vertrieb: Polygram)

Bachs „Kunst der Fuge“ gilt als eines der Gipfelwerke der abendländischen Musik. Auch wenn die Wissenschaft die vom Bachsohn Carl Philipp Emanuel in die Welt gesetzte Legende des „opus ultimum“ längst als Mythos entlarvt hat, bezeichnen die insgesamt 18 Nummern der Druckfassung wie Beethovens späte Streichquartette ein Äußerstes an konstruktiver kontrapunktischer Verdichtung und geistigem Anspruch: Anforderungen, die die Interpreten des rätselhaften Werks vor schier unüberwindbare Hindernisse stellen. Bach hat das Kontrapunkt-Kompendium aber nicht nur als „Augenmusik“ zum Studium, sondern zum Musizieren bestimmt – allerdings nicht zum Hintereinanderhinwegspielen oder -hören wie die Sätze einer Suite oder Sinfonie. Lange hat man gerätselt, welche klangliche Realisierung Bach bei dem in Partiturdruck überlieferten Werk vorschwebte. Dafür zeugen die zahlreichen Orchesterbearbeitungen seit den 20er Jahren. Inzwischen hat sich die Überzeugung durchgesetzt, daß „Die Kunst der Fuge“ für ein Tasteninstrument bestimmt ist. Vor allem die Spartierung für ein gemischtes Ensemble verleiht der instrumentalen Klangfarbe eine Prominenz, die vom stile antico des Stimmengeflechts ablenkt. Damit sind andere Klangkombinationen aber nicht von vornherein ausgeschlossen. Man muß nicht so weit gehen wie Peter Schleuning, der Verfasser einer unkonventionellen Studie über das Werk, der ein Saxophonquartett favorisiert. Näher liegt die Besetzung mit einem Streichquartett. In dieser Formation hat jetzt das ungarische Keller-Quartett „Die Kunst der Fuge“ für ECM aufgenommen. Man kann das klingende Ergebnis nicht anders als sensationell bezeichnen. Wie nach der maßstabsetzenden Einspielung der Bartók-Quartette durch das Ensemble nicht anders zu erwarten, huldigen die vier Streicher nicht dem schönen, satten Ton des romantischen Klangideals, sondern musizieren Bachs tiefsinnige und zugleich ganz und gar mathematisch durchrationalisierte Esoterik aus dem Geist der musikalischen Moderne. Auf bestürzende und doch zugleich ganz leichtfüßige, unprätentiöse Weise, mit wenig Vibrato, wenig Espressivo legen sie das utopische Potential dieser Fortschrittsmusik mit rückwärts gewandten Zügen frei. Der leichte, oftmals fast pointillistisch atmende Klang nimmt der Musik alle falsche Aura. Im Spiel des Keller-Quartetts tritt der Ton zugunsten der Stimmführung, die nie nach vorne drängende Einzelstimme zugunsten des polyphonen Gefüges zurück. Ähnliches gilt für das stets flexible Tempo, das keine Monotonie aufkommen läßt, für die eher undramatische, nachdenkliche Deklamation, die erst sucht, was sie zusammenfügt und nicht bereits im Vorhinein als prästabilierte Harmonie dekretiert. Nicht zuletzt zeichnet es die Interpretation aus, daß sie strenge Ordnung und vollkommene Freiheit auf sinnfällige Weise miteinander zu verbinden weiß.

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