Schon seit einigen Jahren wird der Tonträgermarkt mit CD-Boxen geradezu geflutet. Fast scheint es so, als wäre der wohlfeile Ausverkauf gutbestückter Klangarchive im vollen Gange. Kein Künstler, kein Jubiläum, auch keine Gattung ist vor einer Zusammenschau sicher. Erinnerungen an herausragende einzelne Produktionen, die man einst andächtig auf den Teller legte, verblassen trotz alledem noch lange nicht. Im Gegenteil erscheinen sie mehr denn je präsent – gerade weil sie die eigene Hörerfahrung begründeten und ein Stück der eigenen musikalischen Biographie geworden sind. Wo angesichts der hereinstürzenden Massen alles verfügbar scheint, haptisch oder auch nur virtuell, bedarf es mehr denn je der Orientierung.
Dies gilt auch für die aktuell vier angebotenen Beethoven-Boxen, die unterschiedlicher kaum sein könnten und sich doch in einem treffen: dem Wunsch nach enzyklopädischer Vollständigkeit. Entscheidend sind dabei nicht die Sinfonien, Sonaten oder Streichquartette, sondern das entgegengesetzte Ende des Katalogs: kleine Klavierstücke, Kanons und Kontrapunktstudien. An ihnen messen sich am Ende auch die Editionen: Weltersteinspielungen des maximal Marginalen, die wohl doch nur für den Nerd oder Wissenschaftler von Interesse sind – sofern man sich nicht selbst auf den Tasten betätigen mag. Wie sinnlos aber das dahinter stehende Motto „every note he ever wrote“ ist, zeigte sich gleich Anfang des Jahres, als in Wien aus einem (bekannten) Skizzenblatt ein bisher unbeachteter Ländler geborgen werden konnte. Insofern stellt sich die Frage, nach welcher Maßgabe sich die gewichtigen „Complete Editions“ überhaupt definieren. Denn die konkurrierenden Boxen von Brilliant Classics, Naxos, Warner und Deutsche Grammophon unterscheiden sich nicht nur bei der Auswahl der Künstler, sondern ebenso in der Aufmachung und Vermittlungsstrategie. Musikalisch sind zunächst einmal jene Majors im Vorteil, die sich nicht nur andere Labels einverleibten, sondern auch kontinuierlich das eigene Archiv pflegen, auf einen breiten Stamm hochrangiger Interpreten zurückgreifen können und auch noch selbst neu produzieren. Dass dennoch per Lizenz Fehlendes dazu gekauft werden musste, ist in gewissem Umfang natürlich gegeben und verschmerzbar. Aber: Herbert Blomstedts Dresdner Einspielung (1976) der „Leonore“ findet sich gleich in drei(!) der Boxen, auch eine Produktion der Volksliedbearbeitungen (2007) wird gedoppelt. Also alter Wein in neuen Schläuchen? Nicht durchwegs, doch gilt es, genau hinzuschauen.
Brilliant Classics
Bereits 2017 ging Brilliant Classics mit einer „Complete Edition“ an den Start (85 CDs, ca. 80 Euro). Wie leider noch immer bei diesem low-cost-Label üblich, ist die Ausstattung der Box auf das Notwendigste beschränkt: Auf den Hüllen finden sich mehr oder weniger vollständige Angaben zu den meist älteren Produktionen, eine grobe Übersicht über den Inhalt im Ganzen ist auf der Innenseite des Deckels abgedruckt. Hilfe sucht man auch im nur online verfügbaren Booklet (119 Seiten im Format A4) vergeblich: ein 50-seitiger englischsprachiger Essay ohne Nennung der Autorin oder des Autors, eine Aneinanderreihung der gesungenen Texte ohne jede Übersetzung, kein Register. Freilich stößt man bei den Interpreten und Interpretationen auch auf keine großen Überraschungen; es geht mit vielen eingekauften Produktionen sehr solide zu (im besten Sinne des Wortes!): Sinfonien mit der Staatskapelle Dresden (Blomstedt), Klavierkonzerte mit Alfred Brendel und den Wiener Symphonikern (1961), die Sonaten ebenfalls mit Brendel (1962/64), die Streichquartette mit dem Dresdner Suske Quartett, die Missa solemnis unter Kurt Masur.
Ergänzt wird das alles um Eigenproduktionen der Klaviertrios, der Volksliedbearbeitungen und einiger Kompositionen für Klavier – darunter auch weniges auf alten Instrumenten. Fazit: Hier kann man nichts falsch machen, denn Brilliant Classics dokumentiert schlichtweg das hohe Niveau und den spezifischen Klang einer über Jahrzehnte gewachsenen deutschen Aufführungstradition. Aber auch dies (als mögliches Konzept) wird nirgends erwähnt – ein Understatement, das am Ende doch irritiert.
Warner Classics
Etwas handlicher und knallrot präsentieren sich die „Complete Works“ von Warner Classics (80 CDs, ca. 100 Euro) – einem Konzern, der dank verschiedener Fusionen auch auf den Back-Katalog der ehrwürdigen EMI wie auch auf den der einstigen Hamburger Teldec zugreifen kann. Vor diesem Hintergrund wird der etwas seltsame Zusatz „Warner Classics’ first-ever Complete Edition“ verständlich – verbunden mit dem Hinweis, man habe Einspielungen aus dem Zeitalter der LP mit dem Besten aus der CD-Ära und neuen Aufnahmen von Raritäten kombiniert. Wenn man so will: genau das, was man von solch einer Beethoven-Box auch erwarten darf. Doch wirkt die Auswahl angesichts dieses weiten Fundus’ wenig spektakulär, gelegentlich gar ein wenig bequem. So wurden die Sinfonien mit Nikolaus Harnoncourt und dem Chamber Orchestra of Europe bestückt, die Klavierkonzerte mit András Schiff und einmal mehr der Staatskapelle Dresden, die Sonaten mit dem hierzulande ein wenig in Vergessenheit geratenen Stephen Kovacevich. Diese Einspielungen aus den 1990er Jahren werden sekundiert von noch älteren, aber erreichbaren Produktionen wie den Klaviertrios mit Zukerman/du Pré/Barenboim, dem „Fidelio“ oder der Missa solemnis unter Otto Klemperer; neueren Datums sind (bezogen auf größere Gattungen) nur die Streichquartette mit dem Artemis Quartett.
Hier aber zeigt sich, wie problematisch die grundsätzliche Entscheidung ist, bestehende Gesamteinspielungen einzelner Werkkomplexe zu rekapitulieren statt vielmehr aus der Fülle des Archivs eine größtmögliche Breite der Sichtweisen aufzufächern. Kräftig gespart wurde am Beiwerk: Der zwölfseitige Essay von David Wyn Jones stellt eine tour de force dar, eine Doppelseite mit dem (zweifelhaften) Briefzitat „Beethoven gibt es nur einen“ (1806) zementiert unnötig das Bild des unwirschen Titanen. Weit mehr Interesse verdient die Auflistung „Works not included“ mit Stücken aus den Abteilungen WoO und Unv[ollendet]: Versammelt ist hier Verlorenes, Skizziertes, Fragmentarisches, Fragliches, Zweifelhaftes, Unvollständiges sowie Miniaturen und Akademisches. Hier dürfte der Sammler erst anfangen neugierig zu werden…
Naxos
…und wird schließlich bei der „Complete Edition“ von Naxos fündig (90 CDs, ca. 90 Euro). Wieder einmal wird das Label seinem Ruf gerecht, nicht allein längst etabliertes Repertoire zu reproduzieren, sondern auch keine Scheu vor Novitäten oder gar Randständigem zu haben. Am wohl spannendsten sind in diesem Sinne die CDs 32, 34 und 63, die reiche Beute an rarer Spreu bieten. Allein die (wirklich gut aufbereiteten) Werkdaten mit den Verweisen auf WoO sowie auf die Kataloge von Hess und Biamonti zeigen schnell, dass man sich hier im ungerodeten Dickicht unbefahrener Nebengleise befindet. Vielfach nur einfache Skizze, geben diese Notate einen Eindruck in Beethovens Werkstatt und seine spontane Inspiration, ohne dass er sie anschließend ausgearbeitet hätte. Dass man dabei nun aber wirklich nicht alles einspielen muss, zeigt der kürzeste Schnipsel mit einer rekordverdächtigen realen Spielzeit von unter 3 Sekunden (Biamonti 849). Im übrigen schöpft Naxos bei dieser dicht gepackten Beethoven-Schau aus der Fülle des eigenen, in den letzten drei Jahrzehnten aufgebauten Katalogs mit grundsoliden, gelegentlich auch darüber hinausgehenden Interpretationen mit der Nicolaus Esterházy Sinfonia, der Cappella Istropolitana, Jenö Jandó und Boris Giltburg, dem Kodály Quartet und Maria Kliegel bis hin zu der umfassenden Neuproduktion der Vokalwerke unter Leif Segerstam (sympathisch: alles immer mit Nachweis der Erstveröffentlichung).
Deutsche Grammophon
Gegenüber diesen drei wohlfeilen Boxen ist der konzeptionelle Ansatz der Deutschen Grammophon ein umfassenderer (118 CDs, 3 Blu-ray Discs, 2 DVDs, ca. 230 Euro). Nicht nur, dass man auf die Beethoven-Erfahrungen aus den Jahren 1970 und 1997 aufbauen konnte und ein schier unerschöpfliches Archiv zur Verfügung hat. Hinzu kommt die offizielle Kooperation mit dem Bonner Beethovenhaus, die sich vor allem inhaltlich in einem edlen Begleitbuch dokumentiert: Hier wird Ludwig van Beethoven als Mensch in seiner Zeit portraitiert, kombiniert mit einer Fülle von Farbabbildungen in bester Qualität. Doch auch musikalisch steht dem Anspruch, die „most complete Beethoven anthology ever produced“ zu sein, quantitativ wie qualitativ kaum etwas entgegen. Das beträchtliche Mehr an CDs gegenüber den anderen Editionen ist der grundsätzlichen Entscheidung geschuldet, jedem gewichtigen Werk nicht nur eine Einspielung zuzuordnen. So liegen für die Sinfonien gleich drei (!) Zyklen vor: einer mit wechselnden Orchestern unter Abbado, Chailly, Giulini, Karajan und Nelsons, ein zweiter mit den Wiener Philharmonikern unter Bernstein, Böhm, Kleiber, Monteux, Nelsons, Schmidt-Isserstedt und Szell, und schließlich ein dritter auf historischem Instrumentarium unter John Eliot Gardiner.
Bei den Klaviersonaten sind es Produktionen, die Einblick in ganz unterschiedliche Temperamente und Sichtweisen geben: Arrau, Ashkenazy, Brendel, Freire, Gilels, Grimaud, Gulda, Kissin, Kocsis, Kovacevich, Lupu, Perahia, Pollini, Uchida. Lediglich beim Oratorium Christus am Ölberge sowie kleinen Orchestertänzen und Märschen ist zu erkennen, dass keine Alternativen bereit standen.
Eine eigene Abteilung ist den „Raritäten“ gewidmet: kurze Klavierstücke, Arrangements, alternative Versionen sowie Studien und Fugen. Allein 17 CDs zählt das Supplement mit historischen Aufnahmen (u.a. Fricsay, Furtwängler, Kleiber, Schnabel, dem Busch Quartett und dem Quartetto Italiano) und einer Auswahl von Einspielungen auf historischen Instrumenten. Die Blu-rays vereinen maßgebliche Zyklen platzsparend (Karajan 1961/62, Kempff 1964/65, Amadeus Quartet 1959/63). Mit dieser Konzeption dürfte die DG-Box bereits beim nächsten Beethoven-Jubiläum Kultstatus erlangt haben – auch als ein Monument vom Ende des physischen Zeitalters.