Klangexpeditionen +++ Jahrhundertaufnahmen +++ Seltene Geradlinigkeit +++ Kasse machen +++ Für Raritätensammler +++ Unsere Autoren: Hans-Dieter Grünefeld, Christoph Schlüren, Sven Ferchow, Michael Kube und Mátyás Kiss
Hans-Dieter Grünefeld: Klangexpeditionen
Das Terrain der Klänge hat verborgene Zonen, gar ungehört ist Vieles und bisher nur vereinzelt aufgenommen. Im Zeitalter digitaler Kommunikation entstehen Kapazitäten der Musikproduktion, die zuvor unrealisierbar waren. Eine Partitur kann nunmehr nicht nur interpretiert, sondern in Echtzeit von den ausführenden Musikern so technisch manipuliert werden, dass sie eine zusätzliche Signatur erhält. Der schwedische Komponist Jesper Nordin hat für solche Zwecke ein „Gestrument“ erfunden: ein mit Sensoren an Menschen funktionierender interaktiver Multiplikator für Gesten, die an ein Gerät künstlicher Intelligenz (KI) übertragen werden und direkt in den Klangprozess einfließen. Seine Penta-Suite „Emerging From Currents And Waves“ (BIS 2559) riskiert zwar gewisse Assoziationen, aber nicht in naturalistischem, sondern metaphorischem Sinn. Sie beginnt wie eine langsame Lawine aus höchstem Streicher-Diskant und bewegt sich abwärts zu rollenden Bässen und grollenden Pauken und breitet sich in verschiedenen Dichtegraden aus. Bei der Gestaltung dieser Szene hat Esa-Pekka Salonen als Dirigent diskret interveniert, während Martin Fröst, Solist des folgenden Klarinettenkonzerts, sich durch ein Mirakel-Narrativ den Weg bahnt. Die finalen „Waves“ führen über mikrotonale Passagen zu einer einsamen Klarinettenstimme, die entlang zarter Streicher-Tremoli ad finem führt. Ein sehr aufregender Trip mit modernster Klangtechnik.
Durch Konfrontation von Prosodien der Vergangenheit und der Gegenwart sucht der englische Komponist James Week Analogien musikalischer Stimmgestaltung. Leise gesprochene Silben fügen sich zu vagen Worten, in langsamen Tonfolgen rezitiert die Mezzo-Sopranistin Lucy Goddard zu Violin-Arabesken einen Prosatext, Melodie-Fragmente werden hörbar. Schnitt: Das Exaudi Vokalquintett stellt Exzerpte aus dem ersten Madrigalbuch (1539) von Jacques Arcadelt vor, luzide Polyphonie, deren Intensität sich bis zum Jubel mit melancholischem Flor steigert. Ab da findet eine Korrespondenz statt, indem eine Sopran-Dissonanz in die Madrigal-Harmonie einströmt, sich verselbstständigt, wieder zurück pendelt und dann in Mikro-Intervallen und Glissandi eine andere Dimension, nämlich zum „Book of Flames and Shadows“ (Winter & Winter 910 282-2) von James Week, öffnet, um die Zeitdistanz der Epochen in faszinierender Fantasie aufzuheben.
Was so notiert und bewusst gelenkt ist, findet bei Bassist Barre Phillips und György Kurtág, Jr. (Live-Electronics) „Face à Face“ (ECM 2735) intuitiv statt. Sich gegenseitig zu erkennen und dadurch spontan zu musikalischen Interaktionen zu kommen, ist eine Fähigkeit, die beide auf höchstem Niveau kultiviert haben. Mikro-Tonzellen genügen, um im Antiphon von Kontrabass und zirpenden Electronics zu „Beyond“ bekannter Muster zu gelangen. Oft sind die Rollen auf maximale Kontraste angelegt, sodass Barre Phillips frei flippende Partikel im Bass-Galopp „Across the Aisle“ zu elektronischen Außenreizen vorantreibt. Doch manchmal sind die instrumentalen Timbres so ineinander verwoben, dass kaum ein Unterschied der Akteure zu hören ist, etwa die perkussiven Bass-Schläge und flackernden Synthi-Klänge der „Under Zone“ oder „Two by Two“, bei dem sich con arco Multiphonics und Flageoletts mit elektronischen Partikeln intensiv vermischen. Hier sind sich zwei kongeniale Partner begegnet, die ihre Klangexpeditionen als freien philosophischen Diskurs gestalten können.
Hans-Dieter Grünefeld
Christoph Schlüren: Jahrhundertaufnahmen
Was den Editionswert betrifft, war die wichtigste Veröffentlichung 2022 die Komplettausgabe der Minneapolis Symphony- und New York Philharmonic-Aufnahmen unter Dimitri Mitropoulos (Sony Classical), die dutzendweise Jahrhundertaufnahmen beinhaltet – so etwa Wozzeck, Erwartung, das 5. Beethoven-Konzert mit Casadesus, Borodins 2. Symphonie, Tschaikowskys 1. Suite und vieles weitere Unübertroffene. Für mich persönlich ist der Höhepunkt die unaufhaltsame Darbietung der 3. Symphonie von Peter Mennin. Weitere Kronjuwelen aus dem historischen Milieu sind Sibelius’ 5. Symphonie und die Feuervogel-Suite unter Sergiu Celibidache (Münchner Philharmoniker), eine großartige Box mit Live-Aufnahmen Karel Ancerls mit der Tschechischen Philharmonie mit vielen Raritäten (Supraphon), die Decca-Komplettbox des überragenden ungarischen Pianisten Zoltán Kocsis und Vol. 10 der Legacy des dänischen Maestro Thomas Jensen mit der besten Aufnahme der hochoriginellen Symphonie von Franz Syberg (Danacord).
Unter den aktuellen Orchesteraufnahmen ragt Jakub Hrusas Einspielung von Hans Rotts Symphonie in E und Bruckners Symphonischem Präludium heraus (Deutsche Grammophon), mit den gleichen Musikern gibt es die zwei abschließenden Folgen der starken Kopplung der Brahms-Symphonien mit den vier letzten von Dvorák (Tudor).
Hochinteressant ist die Alban-Berg-CD unter Andrew Davis (Chandos), die neben dem Violinkonzert Davis’ Orchestrationen der Klaviersonate und der Passacaglia enthält. Ein leidenschaftlich wildes Stück ist das Violinkonzert des früh verstorbenen André Tchaikovsky, von Ilya Gringolts mit Kancheli gekoppelt (Filharmonia Narodowa). Endlich stilistisch angemessen profund bietet Juha Kangas mit Marko Ylönen und Lilli Maijala in Tallinn die Konzerte für Cello bzw. Viola und Streicher von Peteris Vasks dar (Alba Records). Unerhört klar und spannend wie eigentlich immer singt Barbara Hannigan Alban Berg und Gustav Mahlers 4. Symphonie mit Kammerorchester (Alpha Classics).
Das große Highlight in der Kammermusik ist die Ersteinspielung der Quartett-Symphonie von Gavriil Popov, eines Jahrhundertwerks – sozusagen eine Art ‚Pathétique‘-Symphonie für Streichquartett –, durch das superbe Quartet Berlin-Tokyo (QBT), und im nächsten Atemzug ist das Quatuor Diotima mit den Streichquartetten Nr. 3 und 5 von Conrado Del Campo (1878–1953) zu nennen, dem – bisher selbst Spaniern kaum bekannten – großartigsten Quartettkomponisten Spaniens.
Ein tolles Stück ist das hochvirtuose Quintett für Bratsche und Streichquartett von Alberto Hemsi, der ansonsten mit freien Arrangements sephardischer Melodien seine bekannte Seite offenbart (Chandos). Von schärfster Authentizität und nie nachlassender Spannung sind die drei Streichquartette des Einzelgängers Heinz Winbeck (Genuin). Eine der zeitlos treffsichersten Aufnahmen der fünf Cellosonaten Beethovens verdanken wir Alisa Weilerstein und Inon Barnatan (Pentatone), und ganz wunderbar ist die Duosonate für zwei Celli von Donald Francis Tovey (Toccata Classics). Eine hinreißende französische Klaviersolo-CD schließlich hat Patricia Pagny bei Stradivarius eingespielt, aus welcher die vier groß angelegten Nocturnes des kaum bekannten, großen Milhaud-Zeitgenossen Georges Migot herausragen.
Christoph Schlüren
Sven Ferchow: Seltene Geradlinigkeit
John Mellencamp macht weiter. Dieses Jahr mit „Strictly A One-Eyed Jack“. Was dieses Album so wertvoll erscheinen lässt, mögen weniger die Songs sein, sondern die Erinnerung, was es eigentlich bedeutet, ein kompletter Musiker zu sein. Federleicht bewegt sich Mellencamp zwischen den Linien sämtlicher Genres, schafft es aber dennoch, jeden Song als seinen zu präsentieren. Natürlich im rotzigen Gewand mit ironisch-bitterer Attitüde (Republic).
Pearl Jam-Sänger Eddie Vedder überraschte mit seinem Soloalbum „Earthling“. Einerseits, weil er sich mit Produzent Andrew Watt eine Verjüngungskur verpasste, andererseits, weil er sich bei jedem Song seine persönlichen musikalischen Helden als Vorlage nahm (The Who, Tom Petty, Beatles, Bruce Springsteen). Heraus kam eine Melange, die nicht sofort überzeugt und oft konfus wirkt. Allerdings, man kann das Album tatsächlich mögen lernen. In zehn Jahren sicher ein Klassiker (Republic Records). Geradlinigkeit ist heutzutage selten.
Umso erfrischender, dass die schwedische Rockband The Hellacopters diesem Credo auch mit dem aktuellen Album „Eyes of Oblivion“ unnachgiebig frönt. Rockmusik ist hier kein Versuchskaninchen, sondern eine gute alte Freundin, die einem klaren Muster folgt. Keine Schnörkel, hauptsächlich Gitarren, dezent lakonischer Gesang und ein tolles Händchen für Melodien. Es könnte so einfach sein (Nuclear Blast).
In die gleiche Kerbe schlagen ohne jeden Kompromiss die Briten der letzten echten Hardrockband Thunder. „Dopamine“ untermauert den Stellenwert der Briten in jeder relevanten Hinsicht. Hardrock mit mehr Gefühl im kleinen Finger als sämtliche Nachahmer aus Amerika mit geföhnten Mähnen und Kajal getränkten Augen (Thunder/BMG).
Schlagzeug und Gitarre. Mehr brauchen The Black Keys nicht, um einen coolen Rocksong aufzunehmen. „Dropout Boogie“ ist ein weiteres Album des Duos, das uns mächtig in die Parade fährt, mitwippen lässt, Gänsehaut besorgt, unser Leben ironisch-kühl oder humorig-warm beleuchtet und in jeder Sekunde schlicht, aber trotzdem mächtig zeitlos wirkt. Die Kraft der zwei Herzen (Nonesuch Records).
Man muss nicht lange um die Verdienste der Wiener Band Wanda im deutschsprachigen Rock/Pop schwadronieren. So etwas wird es lange nicht mehr geben. Trotz mancher Neider, die eben immer etwas finden. Dennoch. Das fünfte, selbst betitelte Album „Wanda“ mag eine kleine Zäsur darstellen. Auf den ersten und zweiten Blick erscheinen viele Melodien, Strukturen und Zeilen als „Gebrauchtware“. Sicher kein Ausschuss. Aber den Irrsinn, diesen hochintelligenten Nonsense der ersten Alben, erreichen Wanda auf diesem Album leider nur selten (Ausnahmen: Va bene, Kein Bauplan). Letztendlich ein Album, das auf „Nummer sicher“ geht, gleichwohl wieder großen Charme besitzt und dessen Bedeutung für die Band – vor allem ob des tragischen Todes von Keyboarder Christian Hummer – sowieso bar jeder Vorstellung sämtlicher schlauer Kritiken und schreibender Anmaßungen sein wird (Vertigo Berlin).
Sven Ferchow
Michael Kube: Kasse machen
Auch wenn draußen in der freien Wildbahn vor allem gestreamt wird – die CD ist deshalb im realen Musikleben noch längst nicht tot. Zwar werden mit physischen Produkten nicht mehr ansatzweise jene Umsätze erzielt, die vor zwei oder drei Jahrzehnten die Kassen in den Geschäften, bei den Labels und den Interpreten haben klingeln lassen. Doch ist die reale Scheibe nach wie vor ein tragender Faktor, wenn es um Reputation und Repräsentation geht. Natürlich gibt es immer wieder YouTube-Stars und -Sternchen, die bisweilen auch von (Major-)Labels ab- und aufgefangen werden. Aber um welchen Preis? In solchen Fällen glaubt man schon lange nicht mehr an das Repertoire, sondern nur noch den steilen Marketing-Prognosen. So schnell und verführerisch ein solcher Vertrag geschlossen sein mag: Er stürzt die Interpret*innen vielfach in eine Metamorphose – von Frisur, Styling und Image bis hin zu dem, was musikalisch reproduziert wird. Ein faustisches Vergnügen, bei dem Licht und Schatten, Karriere und Scheitern nahe beieinander liegen.
Wer sich nicht verkauft, muss zahlen. Hinter vorgehaltener Hand höre ich immer öfter von der absurden Praxis, dass nun nicht mehr nur eine auf eigene Kosten fertig aufgenommene und gemasterte Datei mitzubringen ist, sondern auch die physische Herstellung beziehungsweise eine vertraglich vereinbarte Pflichtabnahme aus eigener Tasche gezahlt werden muss. Manchmal kommt dann zusätzlich ein Vertragsfotograf ins Spiel, ohne den angeblich nichts geht. Natürlich geht es allen jungen Künstler*innen und Ensembles so, dass man sich bestmöglich auf dem kollegial umkämpften Markt positionieren möchte. Doch mal ehrlich: Warum dabei Großmutters Erbe verbrennen oder gar einen Kredit auf die ungewisse Zukunft aufnehmen? Mir kam sogar zu Ohren, dass (einige) Labels durch Provisionen an den Live-Auftritten ihrer Künstler mitverdienen wollen. Vielleicht ist meine Perspektive darauf allzu konservativ und idealistisch, aber anständig erscheint mir das nicht. Bei solchen Vereinbarungen ist die gemeinsame, partnerschaftliche Augenhöhe längst verloren.
Aufmerksam wurde ich auf das Phänomen in den letzten Jahren, als sich die großen Distributoren (so es diese strukturell noch gibt) mehr und mehr von ihrer Promoter-Aufgabe zurückgezogen und das Feld den PR-Agenturen überlassen haben. Und auch diese wollen für ihre Adress-Kartei, ihre Erfahrung und ihren Service bezahlt werden. Mir persönlich stellt sich eher die Frage nach der Umweltverträglichkeit, wenn die Muster einzeln verpackt versendet werden. Und die digitale Alternative? Nein danke! Da zappt man doch nur ungeduldig durch, wo es doch gerade um das genaue Hinhören geht. Ohnehin finden sich vermehrt Alben, die mit ihren kurzen Snacks und Tracks wie ein Fundus an Pausenfüllern wirken: schöne Stücke, schön gespielt. So richtig reiben kann man sich an originellen, eigenständigen Interpretationen jedenfalls derzeit weniger – die üblichen und stets wiederkehrenden Zitronen einmal ausgenommen. Wenn Wünsche wahr werden könnten, so würde ich (alle Jahre wieder) an das ungehörte Repertoire denken. Nur wenige Labels (die üblichen Verdächtigen) nehmen sich dieser Aufgabe an. Ihnen gilt einmal mehr mein Respekt.
Michael Kube
Mátyás Kiss: Für Raritätensammler
Ungeachtet des um sich greifenden Streamings werden Raritätensammler weiterhin bestens versorgt, zum Beispiel mit Richard Dünsers aktueller Komplettierung einer E-Dur-Symphonie von Franz Schubert nach Fragmenten von 1820/21 und 1828: Das so entstandene Schwesterwerk zur C-Dur-Symphonie stellt einen echten Gewinn fürs Repertoire dar, zumal Mario Venzago am Pult des Berner Symphonieorchesters ein so überzeugendes Plädoyer für die Rekonstruktion liefert (Prospero). Auch die Konzertsuite, welche Brian Newbould aus der Bühnenmusik zur „Zauberharfe“ gewonnen hat, macht in der Lesart der Jungen Philharmonie Wien unter Michael Lessky Freude (Gramola).
Der 1697 im Schubert’schen Alter von 31 Jahren verstorbene Buxtehude-Schüler Nicolaus Bruhns hat uns nur zwölf Geistliche Konzerte und sechs Orgelwerke hinterlassen. Die Hälfte davon unterzog nun Masaaki Suzuki mit dem Yale Institute of Sacred Music auf einer mit 86 Minuten randvollen, dabei durchweg fesselnden SACD als Vol. 1 der „Cantatas and Organ Works“ einer Neubewertung (BIS). Noch nie auf CD zu hören war dagegen das kurze, aber spannende Oratorium „Der gegen seine Brüder barmherzige Joseph“ des eher als Theoretiker bekannten Johann Mattheson, engagiert gesungen (die Fuge für vier Tenöre!) vom Ensemble Paulinum und begleitet vom Pulchra Musica Barockorchester unter Christian Bonath (Capriccio).
„Of Grief and the Divine“ nennt sich ein hochinteressantes Programm aus je vier so genannte Verse Anthems von Matthew Locke und John Blow. Die fünf bis sechs Chorist*innen vom Ensemble Cosmos erwecken eine alte Tradition geistlicher Musik zu neuem Leben – so klänge Rosenmüller auf Englisch (Paraty). Ins weltliche Schaffen Lockes kann eintauchen, wer sich seine ausgewachsene Oper „Psyche“ zu Gemüte führt. Sie vertont das übersetzte Libretto von Quinault & Co., das Lullys „Psyché“ zugrunde lag. Wohl deswegen hat das sonst französischen Barock pflegende Ensemble Correspondances unter Sébastien Daucé das kurzweilige, streckenweise echt anrührende Werk aufgenommen (harmonia mundi).
Viele Hörer wünsche ich auch den Duos des Johann Wilhelm Wilms, der vor 250 Jahren geboren wurde und vor 175 Jahren starb: Auf zwei SACDs haben Sebastian Berakdar und Helen Dabringhaus seine sechs Sonaten für Klavier und Flöte (in dieser Rangordnung) vorgelegt, ein Genre, das außer Wilms in der Beethoven-Zeit kaum jemand pflegte (MDG). Wer Lust auf mehr Flötenklänge hat, greife unbedingt zur anfänglich gewöhnungsbedürftigen, dann beglückenden Auswahl von Triosonaten für zwei Traversflöten und Basso Continuo des vor genau 300 Jahren zur Welt gekommenen Jakob Friedrich Kleinknecht, die wir dem Ensemble La Cantonnade verdanken (Tyxart).
Zum 200. Geburtstag des einst in allen Genres sattelfesten Joachim Raff haben die Basler Madrigalisten unter Raphael Immoos einen wertvollen, stets wohltönenden Beitrag geliefert, indem sie die Werke für gemischten Chor a cappella einstudierten (Capriccio). Auch der inzwischen bei der dritten Folge angelangte Zyklus der Kammermusik von Raff mit dem unermüdlichen Leipziger Streichquartett sei willkommen geheißen, da Raff acht anspruchsvolle Gattungsbeiträge geliefert hat, Schumann und Brahms dagegen bloß je drei (MDG).
Letzterer hat sicher keine Wiederentdeckung nötig; dennoch gibt es auch bei ihm Schaffensbereiche, die seltener systematisch erkundet werden: Christoph Prégardien und Ulrich Eisenlohr haben jetzt auf gewohnt hohem Niveau vier vollständige Opuszahlen aus dreißig Jahren als erste Folge einer geplanten Liedtotale vorgelegt (Naxos). Als besondere Kostbarkeit erweisen sich Brahmsens sämtliche Duette und Romanzen, welche die in Sopranlage bestens harmonierenden Schwestern Felicitas & Judith Erb mit ihrer Klavierpartnerin Doriana Tchakarova aus der Versenkung holten (MDG). Schließlich sei noch auf ein besonderes Lieder-Recital hingewiesen, welches die stets findige Carolyn Sampson zur Abwechslung mit dem trefflichen Fortepiano-Spieler Kristian Bezuidenhout realisierte: „Trennung“ kombiniert vermeintlich Bekanntes aus der Feder Haydns und Mozarts mit thematisch passenden Trouvaillen ihrer Zeitgenossen Herbing, Fleischer und Wolff (BIS).
20. und 21. Jahrhundert
John Cage, mit Jahrgang 1912 der älteste Komponist in diesem Artikel, gilt zugleich als einer der Väter der Neuen Musik nach 1945. Hier allerdings ist er mit Spätwerken vertreten, noch dazu für Chor, der ja nicht in erster Linie mit Cage assoziiert wird. In der Tat sind nur zwei der vier Stücke explizit für eine Gesangsgruppe konzipiert (darunter als Hauptwerk „Hymns and Variations“), die anderen optional. Dafür fördern sie u mso mehr die eigene Kreativität der Ausführenden, eine Herausforderung, welche der Latvian Radio Choir unter Sigvards Klava glänzend meistert, Schönklang ebenso wenig meidend wie (die Tierlaute bei „Four“!) den bei Cage gebotenen Humor. (Ondine)
„Happy New Ears“ mussten sich auch die Tangomanen aus aller Welt zulegen, wollten sie sich mit den Neuerungen anfreunden, mit denen Astor Piazzolla von New York aus die Musik der Bars und Bordelle Argentiniens aufmischte, ehe sein „Tango Nuevo“ den Siegeszug um die Welt antrat. Doch zunächst galt es, ein klassisches Studium bei Nadia Boulanger in Paris zu absolvieren. Das befähigte ihn etwa dazu, 1953 eine Sinfonietta für Kammerorchester oder „Tangazo – Variationen über Buenos Aires“ zu schreiben, welche noch ganz ohne Bandoneon auskommen, sich aber schon durch starke rhythmische Vitalität sowie den für ihn typischen Schmerzenston auszeichnen. Die Neue Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann hat für „Tango Nuevo – eine sinfonische Hommage“ diese Raritäten auf die Pulte gelegt bekommen, während Lothar Hensel sein Bandoneon bei den „Vier Jahreszeiten von Buenos Aires“ und dem Evergreen „Adiós Nonino“ auspacken durfte. (hd-klassik)
Letzterer und der „Frühling“ sind die einzigen Überschneidungen zu einem kammermusikalischen Piazzolla-Programm, das ebenfalls mit einigen Seltenheiten aufwartet: „Escualo5“, die mit Geige, Akkordeon, Gitarre, Klavier und Kontrabass in fast authentischer Piazzolla-Instrumentation antretende Formation um das Ehepaar Halász, hat neben einigen obskuren Miniaturen als Höhepunkt ihrer fulminant musizierten und aufgenommenen SACD das Spätwerk „Contrabajisimo“ ausgewählt. Auch bei „Escualo5“ stehen neben Originalarrangements Bearbeitungen des Ensembles. Gleichviel – wie bei J.S. Bach bleibt die Substanz (und damit die Wirkung) aller Stücke auf wundersame Weise erhalten. (BIS)
Ein anderes Akkordeon tritt bei „Ein Hauch von Unzeit“ in einen fesselnden Dialog mit dem Mezzosopran von Katharina Rikus, der Tochter von Klaus Huber. Auf der Doppel-CD mit Vokalwerken aus mehr als fünfzig Jahren sind teils minimal, teils umfangreich besetzte Stücke als Erstaufnahmen versammelt, welche eine enorm differenziert geführte Frauenstimme erfordern. Die (mit Ausnahme von „Das kleine Lied“) noch zu Lebzeiten Hubers entstandenen Rundfunkproduktionen dürfen als authentisch gelten und runden sich auch dank der anspruchsvollen Gesangstexte zu einem Komponistenportrait des großen Schweizers. Das gewichtigste Werk „Umkehr – im Licht sein…“ erinnert im Duktus des Sprecherparts (eine beißende Kapitalismuskritik!) nicht umsonst an Zimmermanns ähnlich erschütternde „Ekklesiastische Aktion“, war doch bereits der Titel eine Anspielung auf dessen „Stille und Umkehr“. (NEOS)
Ebenjene Orchesterskizzen von Bernd Alois Zimmermann bilden auch den Schlussstein einer jederzeit anregenden, 3 CDs und ein dickes Booklet umfassenden Anthologie unter dem etwas zu modischen Obertitel „recomposed“, der fälschlich (wie bei einem Remix) Eingriffe von fremder Hand in Zimmermannsche Werke suggeriert. Gemeint sind jedoch Orchestrierungen von Klavierwerken und teils mehrfache Überarbeitungen älterer Kompositionen durch Zimmermann selbst. Das WDR-Symphonieorchester unter der berufenen Leitung von Heinz Holliger produzierte die Aufnahmen über zwei Jahrzehnte hinweg. Sie präsentieren „BAZi“ als aus schierer Geldnot nimmermüden Bearbeiter fremder Musikmaterialien sowie als originellen Fortspinner ebendieser – in seinen eigenen Orchesterwerken nämlich, allen voran den ungemein raffiniert instrumentierten Balletten „Kontraste“ und „Alagoana“, von denen letzteres bereits einen Weltuntergang imaginiert – samt Übergang zum Jenseits. (WERGO)
Von William Bolcom, dem Altmeister der amerikanischen Musik (Jg. 1938), der kürzlich durch Marc-André Hamelins Einspielung seiner köstlichen Piano Rags geadelt wurde, gibt es schon viele, meist hörenswerte CDs. Sein von Brahms‘ Horntrio inspiriertes Werk ist allerdings ebenso eine Ersteinspielung wie die 2. Solosuite für Violine. (Schade, dass der Produzent nicht auch die erste Suite hat aufnehmen lassen, Platz wäre noch gewesen.) Der bei uns unbekannte Geiger Philip Ficsor gestaltet mit tadelloser Technik ein sauber gearbeitetes, mühelos verständliches Stück, dass auch hundert Jahre früher hätte geschrieben werden können. Das tut seiner Qualität aber keinerlei Abbruch. Die Brahms-Hommage kann wie bereits Ligetis Horntrio die geniale Vorlage nicht vergessen machen, aber wie auch? Sie ist eben, genauso wie die Suite oder die Rags, „Musik über Musik“. (Naxos)
Zum Siebzigsten von Wolfgang Rihm sind natürlich eine Reihe von CDs erschienen. Von denen greife ich nur eine für die Münchner Konzertreihe musica viva eher untypische, weil schmal besetzte heraus. Die beiden Stücke aus Rihms mittlerer Periode „Sphäre nach Studie“ und „Male über Male 2“ gruppieren fünf bzw. neun Instrumentalisten um die Pianistin Tamara Stefanovich. „Sphäre nach Studie“ erinnert mich an Stockhausens „Moment“-Kompositionen, wo durchgängig interessante Klangereignisse wie an einer Schnur aufgereiht werden, ohne Rekurs auf klassische Formen zu nehmen, „Male über Male 2“ suggeriert dagegen durch die Viersätzigkeit von Ferne ein Concertino für Klarinette, das der grandiose, bereits Rihm-beschlagene Jörg Widmann bläst. Das 2020 komponierte „Stabat Mater“ beschränkt sich auf ein illustres Duo von Bariton (Christian Gerhaher) und Viola (Tabea Zimmermann), greift also die Besetzung von Hubers „Das kleine Lied“ auf; die Spröde dieser Konstellation entspricht dem oft vertonten Text möglicherweise besser als die balsamischen Klänge bei Pergolesi und seinen Nachfolgern. (br-klassik)
Für ein wahrlich bestrickendes zeitgenössisches Chorwerk halte ich „the writings“ des jüdischen New Yorkers David Lang. Die Vertonungen alttestamentarischer Texte (in englischer Übersetzung) bedienen sich nicht etwa avantgardistischer Techniken, sondern Lang verwendet auf einem sicheren tonalen Fundament rhetorische Mittel wie die sich für Litaneien geradezu aufdrängenden Wiederholungen und Pausen derart raffiniert, dass ein unwiderstehlicher Sog entsteht. Für die erwünschte Wirkung bedarf es natürlich auch eines Weltklassechors wie der Cappella Amsterdam unter Daniel Reuss. (Pentatone)
Der Schwede Albert Schnelzer erlebte 2008 seinen Durchbruch mit der frechen Orchester-Ouvertüre „A Freak In Burbank“. Das Erfolgsstück, welches sich im Titel auf den nachmaligen Filmemacher Tim Burton bezieht, eröffnet nun auch Schnelzers dritte CD, die in ihrer Mischung aus je drei Kammermusiken und üppiger besetzten Werken endgültig für ihn einzunehmen vermag. In Schnelzers Musik, so fein ausgehört sie in ihren stillen Momenten daherkommt, ist immer wieder für rhythmische oder gar tänzerische Bewegung gesorgt. Als feines Beispiel dafür dürfen die Sätze 1 & 3 bzw. 2 & 4 des Hauptwerks der Produktion gelten: Das Violinkonzert No. 2 „Nocturnal Songs“ spielt sein Widmungsträger Ilya Gringolts, der zuvor auf gleichen Label passenderweise mit sämtlichen Geigenwerken Strawinskys hervorgetreten ist. Hier sekundiert ihm die Västeras Sinfonietta unter Simon Crawford-Phillips, aber ich hoffe, dass diese „Nocturnal Songs“ wie der „Freak“ ins allgemeine Konzertrepertoire eingehen. (BIS)
Mátyás Kiss