Als Bach-Spieler hat sich Maurizio Pollini nicht in erster Reihe geoutet – bislang. Der Chopin-Interpret, der Sezierer von Wiens Zweiter Schule dagegen gilt nicht zuletzt und durchaus zu Recht als Meister- und Weltklassepianist mit großem Repertoire, von Bartók bis Nono, von Boulez bis Manzoni, von Beethoven bis Strawinsky. Er ist ein Klavierspieler mit großartigem Zugriff, er repräsentiert das Meisterliche des größtmöglichen Klangzauberpotentials.
Die intellektuellen und die analytischen Weltmusikkapitel der Schönberg-Webern’schen Kategorie durchdringt er ebenso wie den Brahms-Liszt-Schubert-Schumann-Komplex denkerisch und diese Ergebnisse darstellend interpretatorisch. Wenn er jetzt, nicht mehr im körperlichen Outfit des Jungspunds, sondern mental gestählt vom Gedankenkampf inmitten der jeweiligen Modernitäten und Interpreten-Moden unter- und gegeneinander an Bach denkt, ihn durchdenkt, ihn spielt, dann passieren Wunder. Die allerdings gar keine sind.
Denn diese Fülle der musikalischen Pollini-Erfahrung hat er sich selbst über Jahrzehnte erkämpft. Indem er aus jeder Begegnung mit ästhetisch Neuem den Dialog mit historisch Gewachsenem neu führt, gelingt ihm die Verschmelzung von Denken mit pianistischer Umsetzung. Dieses Wohltemperierte Klavier nun ist nicht ein Kompendium für die Fingerfertigkeit oberhalb von Czerny und Clementi – die ihrerseits später und jenseits vom Pädagogischen auch musikalisch Wesentliches gefunden haben – sondern dieser Zyklus repräsentiert schon so eine Art mentaler und psychologischer und spiritueller Tiefenschau in mathematische und konstruktive und musiktheoretische Zusammenhänge, die Pollini in die ihnen innewohnende Einheit versetzt.
Er liefert aber kein mechanistisches Präzisionsprodukt im Geschmack der Gegenwart. Er ist wohl perfekt. Das setzt er voraus. Aber er lässt den atmenden, empfindenden, gestaltenden Menschen sprechen zum zuhörenden Menschen. Gulda hatte den Swing, Gould gab den Analytiker, Richter hatte den langen Atem, Samuel Feinberg schlug die Brücke ins Jenseitige. Pollinis Aufnahme des Wohltemperierten Klaviers aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz ist von all dem etwas. Und doch mehr als die Summe davon. Pollinis Wohltemperiertes Klavier ist ein wahres Wunderwerk.
Maurizio Pollini: Bach. The Well-Tempered Clavier I. DGG 477 8078 G H2 LC 0173 D.P.