1972 war für Chet Baker ein besonders unproduktives Jahr. 20 Jahre zuvor war er an der Seite von Gerry Mulligan zur strahlenden Ikone des Cool Jazz aufgestiegen. Doch schon wenige Jahre später sorgten seine Drogensucht und die damit verbundenen juristischen Nachspiele für Schlagzeilen.
Würdige Zeugnissse der Kunst Chet Bakers
Den Tiefpunkt erreichte er 1966, als er bei einem Überfall verprügelt wurde und einige Zähne verlor. Das Comeback begann 1973 und führte ihn schon 1974 in die Carnegie Hall. Doch bereits 1972, als er mit einem Methadonprogramm versuchte von den Drogen loszukommen, entstand das heuer erstmals veröffentlichte Album In Perfect Harmony mit seinem Jugendfreund Jack Sheldon, der wie Baker ein singender Trompeter der Westküste mit Schauspielerfahrung war.
Die Behauptung im schön gestalteten Beiheft, es sei sein erstes Album seit 1966, ist unhaltbar. In der Zwischenzeit waren Alben wie „Albert’s House“ und „Blood, Chet and Tears“ entstanden, die er wohl selbst lieber vergessen hätte. Offensichtlich hatte Baker (vielleicht nicht zuletzt wegen dieser Misserfolge) einen Bammel davor, wieder eine Platte aufzunehmen. Sheldon überredete Baker damit, dass er nur die Hälfte leisten müsse, wenn er mit ihm die Platte mache. So erleben wir beide Musiker abwechselnd als Sänger und Trompeter als Solisten und als Begleiter – eine reizvolle Idee. Nur hatte Baker nicht mehr sein einstiges Format, aber auch noch nicht den warmen Sound und die Tiefe der späten Jahre. Auf Alben der späten 50er Jahre ähnelt Sheldon tatsächlich Baker stilistisch, vor allem in Balladen. Hier aber kontrastiert er zum gelegentlich noch unsicheren Baker mit eher humoristisch klingendem Gesang – er war auch als Comedian im Fernsehen bekannt – und ausgesprochen boppigem Spiel. Doch auch Sheldon hat man schon viel souveräner gehört. Die mit Jack Marshall (g), Dave Frishberg (p), Joe Mondragon (b) und Nick Ceroli (d) eingespielten Stücke sind extrem kurz. Trotz gelungener Passagen wünschte man, sie hätten mehr Probezeit gehabt und sich in besseren Jahren im Studio getroffen. (Jazz Detective)
Ein würdiges Testament seiner Kunst ist jedoch das wenige Monate vor Bakers Tod entstandene Late Night Jazz. Ganz neu ist es im Grunde nicht. Kaum bekannt ist, dass das Todesjahr 1988 für Chet Baker anfangs im Zeichen von „Jazz & Lyrik“ gestanden hatte. Das kaum bekannte, erste Album des Jahres, im Januar aufgenommen, war „Chet On Poetry“, auf dem er Gedichte italienischer Autoren rezitierte. Im zweiten Album vom Februar, das in der CD-Fassung „Telemark Blue“ heißt, liest der norwegische Dichter Jan Erik Vold selbst seine Werke auf Englisch und Norwegisch. Die Band besteht aus Chet Baker (tp), Philip Catherine (g), Egil Kapstad (p) und Terje Venaas (b). Für „Late Night Jazz“ hat man einfach Volds separat aufgenommene Tonspur weggelassen. Obgleich es nicht die Intention der Urheber war, so gibt es doch ein verständliches Interesse, die Musik nicht im Hintergrund zu hören, sondern für sich stehen zu lassen. Baker spielt hier leiser und wirkt fragiler als ohnehin schon in seiner letzten Lebenszeit, vielleicht auch im Wissen, dass die Tonspur des Dichters noch darüber liegen muss. Sein fast körperloser Ton schwebt auch durch Songs, die man von ihm nicht kennt, wie einem norwegischen Volkslied, Kompositionen von Kapstad und „Alice in Wonderland“. Die beliebte Ballade „Body and Soul“ spielte er äußerst selten. Drei unveröffentlichte Takes machen das Album doch zu einer neuen Hörerfahrung. Auch ohne den Dichter ist das Album reine Poesie. Es ist der große Baker der letzten Jahre mit seiner einzigartigen Fähigkeit berührende Melodielinien zu ersinnen, die in ihrer architektonischen Vollkommenheit so zerbrechlichen Naturwundern wie Schneekristallen oder bunten Schmetterlingen gleichen. (Hot Club Records)
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